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Gehörbildung in der Rhythmik – Ein Fragebogen aus den 50er Jahren

 

Dokumente zur Gehörbildung in der Rhythmik – Diskussion in den 50er Jahren

Rhythmische Erziehung 1/1955 S. 15-16

Fragebogen zur Gehörbildung.

Mme. M. L. Serieyx, die Leiterin der Kommission für Gehörbildung in der U.I.P.D., Genf, bittet alle Kollegen, die Gehörbildung geben, um Beantwortung er folgenden Fragen:
1. 
Wo unterrichten Sie Gehörbildung? 
Nach welcher Methode unterrichten Sie? 

2. 
a) Sind Sie der Ansicht, daß die Gehörbildung mit der Körperbewegung in den Rhythmikstunden zu verbinden ist, d.h. glauben Sie, daß die Intervalle, Skalen und Akkorde auf singendem Wege besser durch die Verbindung mit bestimmten Bewegungen erlernt werden?
(Auf ausführliche Beantwortung dieser Frage wird besonders Wert gelegt; dabei wäre zu präzisieren, warum diese Art der Gehörbildung zu bejahen ist bzw. ob und aus welchem Grunde anders verfahren wird.) 
Angabe der von Ihnen veröffentlichten Vorträge oder Aufsätze über Gehörbildung unter Benennung der Zeitschrift bzw. des Verlages. 

3. 
a) Bedienen Sie sich der drei Bände von Jaques-Dalcroze, Les gammes et les tonalités, le phrasé et les nuances"? 
b) Welchen Bandes besonders und warum?

4. 
Meinen Sie, daß im Falle einer Neuausgabe dieser Werke Modifikationen vorgenommen werden müßten und welche? 

5. Wollen Sie, bitte, eine Aufstellung von Veröffentlichungen über Gehörbildung geben, die Ihnen interessant erscheinen, und sich dazu äußern?

6. a) Geben Sie Unterricht im Bockflötenspiel oder im Spielen von Schlaginstrumenten? 
b) Sind Sie mit den dabei erzielten Erfolgen zufrieden?
c) Haben Sie darüber Arbeiten veröffentlicht und welche?

Eine Wiederholung der Fragen ist nicht nötig, es genügt Angabe der betreffenden Nummer.
Es wäre schön, wenn sich recht viele Kollegen, auch alle diejenigen, die an Volks- und Jugendmusikschulen die musikalische Grundschulung geben, an der Umfrage beteiligten und, auch wenn ihnen die Jaques'sch Gehörbildung unbekannt ist, ihre Erfahrungen mitteilten.

Antworten über Hildegard Tauscher, Berlin﷓Wilmersdorf, Südwestkorso 27.

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(Zeitschrift) Rhythmische Erziehung 2/1955 
Zur Gehörbildung. Hildegard Tauscher

Jeder Rhythmikunterricht setzt die Bereitschaft zum Horchen voraus und beruht u. a. auf der Wechselwirkung zwischen akustischer Wahrnehmung und körperlicher Reaktion auf das Gehörte. Die Frage, wie weit eine zielgerichtete Gehörbildung innerhalb einer musikalischen Ausbildung in Verbindung mit der totalen Bewegung möglich ist, ist daher für den Musiklehrer von besonderem Interesse.
Dabei darf nicht übersehen werden, daß der Mensch auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung verschieden auf Musik reagiert, daß die Reizbeantwortung in sehr unterschiedlicher Art erfolgt.
Das jüngere Kind reagiert auf Musik spontan und ganzkörperlich; seine Motorik ist eine vom Stammhirn gelenkte Grobmotorik, die ohne Zwischenschaltung des Bewußtseins inganggesetzt wird. Reste dieser Stammhirnmotorik sind bis an die Entwicklungsjahre ((Pubertät)) hin festzustellen. Erst nachdem die Grobmotorik mechanisiert worden ist, geht sie allmählich in die vom Großhirn gesteuerte Feinmotorik über, und von diesem Zeitpunkt an werden verschiedene Begabungstypen deutlicher erkennbar. Die akustischen Reize werden nicht mehr unmittelbar durch äußere Bewegungen beantwortet; die Bewegungen werden nach innen verlagert und mehr und mehr reflektierend verarbeitet.
Je differenzierter das Wahrzunehmende und zu Erkennende ist, eine um so stärkere geistige Tätigkeit erfordert es.
So ergibt es sich ebenso aus der Natur des Hörenden wie aus der Art des zu Hörenden, daß das Reagieren auf Musik im Laufe der Entwicklung von der Grobmotorik in die Feinmotorik überführt wird. Feinmotorik, darunter sind in diesem Zusammenhang jene feinen innermuskulären Innervationen zu verstehen, die beim Hören von Musik vor sich gehen und die vornehmlich in der Zone der Tonbildungsapparatur liegen. Daß wir einen Ton richtig nachsingen können, daß wir dahin kommen können, einen Ton annähernd oder genau zu treffen, beruht darauf, daß sich in uns ein Gedächtnis für die zur Erzeugung dieses Tons erforderlichen Muskelspannungen herausbildet. Auch das Treffen oder die innere Vorstellung von Intervallen setzt eine solche Mittätigkeit bestimmter Muskelgruppen voraus. So ist auch das bewußte differenzierte Hören zum Teil ein körperlicher Vorgang, der nun aber nicht mehr nach außen projiziert wird.
Ähnlich wie mit den melodischen verhält es sich mit den rhythmisch﷓metrischen Vorgängen in der Musik. Bei weitern nicht jede Musik kann im Sinne der rhythmischen Erziehung "realisiert", d. h. in totale Bewegung umgesetzt werden. Auch hier werden die Spannungen oft nach innen verlegt werden müssen, wenn sie der Musik entsprechen sollen. Nicht nur das Tempo, sondern auch das Fehlen ausgeprägter Schwerpunkte in mancher alten wie zeitgenössischen Musik macht die Umsetzung in eine Großbewegung unmöglich. In solchen Fällen könnte eine Realisation unter Umständen mehr von der Musik fortführen als den Weg zu ihr öffnen.
Die Fähigkeit des totalen Mitschwingens als Voraussetzung zur Wahrnehmung aller dieser feinen und feinsten musikalischen Spannungen muß – auch beim Erwachsenen  – stets auf’s Neue gepflegt und geübt werden. Das kann nur geschehen, wenn der Mensch immer wieder vor die Aufgabe gestellt wird "Tue, was du hörst !“, wie dies in der Rhythmik der Fall ist. Ebenso kann die Fähigkeit
der Improvisation nicht aus der Kenntnis der Melodie﷓ oder der Tonsatzlehre erworben werden, sondern sich nur üben an der Aufforderung: "Begleite eine Bewegung, die du siehst bzw. deine eigene Bewegung !“, wobei der Begriff Bewegung ebenso grobmotorisch wie innermotorisch verstanden werden kann. (Daß die Übertragung innerer Klangvorstellungen auf ein Instrument eine stete Auseinandersetzung mit den musikalischen Gesetzen erfordert, also das Bewußgewordensein musikalischer Vorgänge voraussetzt, ist selbstverständlich.)
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß von einer gewissen Entwicklungsstufe an eine Bildung des Hörens innerhalb der Rhythmikstunden ergänzt werden muß durch einen Hand in Hand dazu laufenden besonderen Unterricht in Gehörbildung. Die von Jaques-Dalcroze entwickelte Gehörbildungslehre gibt so viele wertvolle Anregungen, daß eine stark gekürzte und mit zeitgemäßen Beispielen versehene Neubearbeitung eine Bereicherung der zur Zeit leider recht spärlichen Literatur auf diesem Gebiet bedeuten würde.
Es folgt nachstehend der erste Teil einer Zusammenstellung von Beispielen für eine Gehörbildung in der Schule, die an dieser Stelle fortgesetzt werden soll.

Stufen der Gehörbildung
I. Ganzheitliches H o r c h e n (Schulkindergarten bis 2. Schuljahr)

1. Horchend im Raum herumschleichen, jeder in seinem Tempo. Wenn man etwas hört ein angeschlagenes Instrument, einen gesungenen oder gesummten Ton, einen gespielten lang oder ein Motiv. etwas Verabredetes tun, z. B. Stehenbleiben bis zum Weitergehen aufgefordert wird, einmal in die Hände klatschen, auf den Fußboden klopfen usw. 
2. Welche Gegenstände aus der Umgebung können zum Klingen gebracht werden und wie klingen sie? Tisch, Tafel, Fenster, Federkasten, Tintenfaßdeckel usw. Gedächtnisübung: mehrere Gegenstände werden hintereinander zum Klingen gebracht, Reihenfolge merken und dann die betr. Gegenstände benennen bzw. sie ebenso zum Klingen bringen.
3. Geräusche aus der Umwelt wahrnehmen, nachahmen, unterscheiden, bestimmen. Was ist auf der Straße zu hören? Signale, Rufe, Maschinen, Autoarten, Autohupen, Vogelstimmen, sonstige Tierstimmen.
4. Wie lange klingt ein Instrument oder ein gesungener Ton und woher kommt der Klang? Mit geschlossenen Augen dem Klang der Flöte nachgehen; mit geschlossenen Augen in die Richtung zeigen, aus welcher, der Klang kommt; mit "horchenden" Armhewegungen die Dauer dieses Klanges angeben.
5. Eine visuell aufgenommene Bewegung summend oder auf einem Instrument begleiten, z. B. das Gehen eines Mitschülers, das Rollen eines Balles, den mit den Armen angezeigten Bögen des Lehrers.
6. Unterscheiden der Stimmen der Mitschüler. Wer hat den Vers gesungen? Wer hat den vereinbarten Satz gesprochen? 
7. Tun, was man hört. Gehen, laufen, schleichen, hüpfen usw. Ball prellen, in die Höhe werfen, Ball rollen, wie lange soll er bis zum Partner unterwegs sein? In welchem Stärkegrad ist die Bewegung auszuführen?
(Laut ﷓ leise, schnell ﷓ langsam, hoch ﷓ tief)
8. Schlaginstrumente unterscheiden, z. B.: Verschiedene Instrumente, von denen der Lehrer oder einige bei ihm stehende Kinder jeweils ein zweites haben, werden auf entsprechend viele Gruppen verteilt. (Der Anführer der Gruppe hat das Instrument.) Hören, welche Gruppe von einem Instrument zum Gehen oder zu einer anderen Bewegung (Sichumdrehen, in die Hocke gehen usw.) aufgefordert wird.
9. Kurze und einfache vorgesungene oder vorgespielte (improvisierte) Melodien stehend hören und dann nachsingen und dazu gehen. (Wenn kein Platz zur Bewegung ist, kann auch leise zum Singen auf den Tisch geklopft oder ein Instrument angeschlagen werden.) Beim Gehen müssen "die Füße gut auf das Ende hören".
10. Einen Namen, einen Satz, ein geeignetes Lied mit verschiedenem Ausdruck sprechen, singen oder auf einem Schlaginstrument spielen.
Ernst, fröhlich, energisch, zornig, sanft, fragend usw., Z. B. "Ich bin da!", "Heute ist es kalt", frierend (unangenehm), fröhlich (es gibt Schnee),' gutgelaunt (das Zimmer ist warm), besorgt (die Blumen könnten erfrieren).
11. Geräuschinstrumente selbst anfertigen. Holzstücke, Metallstürke, leere Dosen aus Blech oder Pappe, die mit Steinen, Sand, Knöpfen, Perlen oder dergl. gefüllt werden. 
12. Gläser, Schüsselchen usw. auf ihren Klang hin untersuchen und darauf selbst erfundene kleine Melodien spielen, Worte dazu suchen (evtl. sie aufschreiben).

Rhythmische Erziehung 3/4 1955
Stufen der Gehörbildung (Fortsetzung)

II. Beginnendes Differenzieren musikalischer Gestalten (Ab 2. Schuljahr)

A. Rhythmisch

1. Phrasierung
a) Abwechselndes Gehen von zwei oder mehreren Gruppen im Raum, den Phrasen der gehörten Musik entsprechend; 
b) Begleiten gesungener oder gehörter Musik mit phrasenweise wechselnden Instrumenten;
c) Gruppenweiser Wechsel beim Singen geeigneter Lieder;
d) Aufzeichnen und visuelles Erkennen der Phrasen eines Liedes.
2. Geh﷓, Lauf. und Schleichnoten (Viertel, Achtel und Halbe) in Verbindung mit der körperlichen Ausführung in eine Korrelation bringen. (Hilfen: Eltern und Kinder; Verwendung von Namen, wie z. B. Hans = Halbe, In-ge = zwei Viertel, An-ne-lie-se = vier Achtel u. ä.)
3. Die Schwerpunkte werden durch eigenes freies Tun erkannt. a) Selbsterfundene Kennzeichnung durch entsprechende Bewegung im Gehen, Laufen oder Hüpfen; b) Prellen des Balles jeweils mit dem Schwerpunkt oder Weiterreichen eines Gegenstandes; c) Mitspielen der Schwerpunkte zu geeigneter gehörter oder gesungener Musik; d) Untersuchen von passenden Texten auf ihre Schwerpunkte hin und Erfinden entsprechender Melodien.
4. Das Charakteristische der verschiedenen Taktarten wird durch freie Körperbewegung gefunden. (Z. B. das Schwingende des "3/4-Taktes, das Bestimmte des 4/4-Taktes, usw.) Taktierbewegungen vom ersten Schuljahr an!
5. Verwendung von Rhythmustäfelchen. (Anregungen dafür folgen später.)
6. Unterhaltung auf Schlaginstrumenten; z. B.: a) zwei Marktfrauen kabbeln sich; b) zwei Freunde flüstern miteinander; c) freie Unterhaltung auf Stabspielen (pentatonisch!).

B. Melodisch

1. "Hoch﷓tief"﷓Motive a) werden nach Anhören in der Bewegung dargestellt; b) werden nach Anhören auf geeigneten, selbst gewählten Instrumenten begleitet; c) werden gezeigt oder aufgezeichnet und musikalische Entsprechungen werden gefunden. (Alles dies zunächst unter Verzicht auf absolute Genauigkeit.)

2. Vergleichen und Ordnen 
a) von gleichartigen rhythmischen Instrumenten nach ihrem Klang; b) der Gläser eines Gläserspiels; c) der Stäbe eines Klangspiels. 
3.) Auf Gläsern oder Glockenspiel Motive (Namen, Rufe, Liedanfänge) spielen, die dann mit Hilfe des "Kieler Glockenspiels" an die Tafel geschrieben und auf der Notenlegetafel gelegt werden. (Mit zwei Tönen, kleiner Terz, beginnen!) 
4.) Hören und Mitzeigen stufenweise verlaufender kurzer Melodien. Z.B.: Das Auf und ab des Fahrstuhls; in welchem Stockwerk bleibt er stehen? Wieviele Stockwerke hat das Haus? Oder: Wie hoch wirbelt der Wind die Blätter? Wann fallen sie endgültig auf die Erde? '. 
5. ) Die fünf Finger der linken Hand sind eine Leiter, auf der der Zeigefinger er rechten Hand eine Melodie anzeigt. Später werden die Zwischenräume zwischen den Fingern einbezogen (Vorbereitung des Fünfliniensystems). Bekannte einfache Lieder oder Liedteile werden von allen singend angezeigt; unbekannte kurze Melodien, die erst in ihrem ganzen Ablauf angezeigt worden sind, werden abgesungen; Rätsel: Welches Lied fängt so an? (Innere TonvorsteIlung.)
Es sollte immer mit stufenweise verlaufenden Melodien angefangen werden. Sprünge sind zunächst nur zum Grundton zu machen. Tonwiederholungen üssen besonders geübt werden.

6. Festigung des Grundtonbewußtseins.

a) Zu gehörten kurzen Melodien im Raum herumgehen (oder leise, horchend, auf rhythmischen Instrumenten mitspielen), beim Grundton (am Ende) wieder an seinem Platz sein (oder den Schluß durch ein passendes anderes Instrument kennzeichnen);
b) Die Arme zeigen die Bögen gehörter Musik in der Luft an; mit dem Grundton sind die Hände wieder auf dem Tisch;
c) Unterscheidung von Frage und Antwort (Ganz- und Halbschluß) durch entsprechende Bewegung bzw. durch verschiedene Instrumente. (Wird fortgesetzt.) ((nichts an Fortsetzung gefunden, RR 12.12.03)) 

Hildegard Tauscher

 

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