Claude Bommeli

Claude Bommeli - Hainard starb 94-jährig am 04.07.2010 in Genf

 

 

Claude Bommeli

Das Kontinuitätsprinzip in Zeit und Raum

Hellerau 1992

Claude Bommeli

Das Leben ist ein Kontinuum, alles Lebende ist kontinuierlich. Die Flüsse, die dem Meer zueilen, wo sich das Wasser ebenfalls fortdauernd bewegt und zuletzt als Dampf dem Himmel entgegen schwebt, um als Niederschlag seinen Kreislauf wiederaufzunehmen, die Flüsse bilden ein Kontinuum.

Die Luft, auch stets in Bewegung, - ist auch ein Kontinuum.

Die Erde, über, neben, unter dem Wasser, ist auch ein Kontinuum.

Kontinuierlich ist auch unser Körper, ja alle lebende Körper, man denke nur an den Blutkreislauf, an das Nervensystem, an die Haut, usw.

Alles was die Kontinuität respektiert, ist lebensfördernd. Alles, was die Kontinuität zerstört, ist lebensfeindlich (das Wort "scheiden" ist dem hebräischen "shaitan" verwandt, welches "Teufel" bzw. "Zerstörer" bedeutet.)

Die Geschichte ist auch, als Darstellung des Geschehens in einem bestimmten Zeitraum, ein Kontinuum und als solches zu verstehen, als nicht statisch, sondern dynamisch. Wie ein Strom, der zwar unaufhaltbar fließt, in dem sich aber stets neue Landschaften spiegeln. Wo ist eigentlich die Quelle? Wo das Ziel?... Alles bewegt sich ja! Dieses Werden und Vergehen scheint ein ewiger Kreislauf zu sein, und doch sieht jeder Neubeginn wieder anders aus!...

In diesem Kontinuum sind hin und wieder Höhepunkte, die in einem begrenzten Zeitabschnitt betrachtet, auch als Beginn gelten können. Höhepunkte sind sie aber nur, weil sie auf festem, gesundem Grunde stehen. Aber wie kam dieser feste Grund zustande? - Wohl aus den, bisher unbemerkten (weil bisher selbstverständlich) Strömungen, die, von Glanzpunkten der vorangehenden Epoche (im Falle Helleraus wäre es das 19. Jahrhundert, vielleicht zum Teil des 18. Jahrhunderts) lange überdeckt, nun das Bedürfnis verspüren, wieder an die frische Luft der Gipfel zu gelangen.

Nicht umsonst erwähnt der Text der Fragestellung den "Geist des Jugendstils und Expressionismus" und, Wolf Dohrn zitierend, "die Wiedergewinnung des Rhythmus in der Erziehung, in der Kunst und im Leben".

Was ist wohl hier mit "Wiedergewinnung" gemeint?... und, wichtiger noch, mit diesem "wiedergewonnenen Rhythmus? ... Der Rhythmus war vorher schon vorhanden. - Wie konnte man ihn für unsere neuen Zwecke gewinnen?

Er konnte uns, glaube ich, nur dann dienen, wenn er es seiner eigenen Beschaffenheit gemäß machen konnte. Seine eigene Beschaffenheit ist aber nichts anderes als seine Natur... Die Natur des Rhythmus aber auch der Rhythmus in der Natur, auch in der Natur des Menschen.

Der Rhythmus als Urelement, befreit von Zeiterscheinungen wie etwa Mode, Stil des Jahres, Regeln der zur Zeit herrschenden Ästhetik usw., wird uns helfen, in der Erziehung eine echte Freiheit zu erwirken.

Wie in der natürlichen Darstellung der Pflanzen in den Dekorationen des Jugendstils (als Revolte gegen die herrschende Stilisierung), wurden damals den von einengender Bekleidung befreiten Körper seine natürlichen Bewegungen wieder ermöglicht (oft allerdings als Nachahmung der altgriechischen Kunst).

Das Kontinuitätsprinzip in Zeit und Raum

Es erfolgt eine "Wiederbefreiung" der Natur in der Erziehung des Körpers, des Geistes, der Psyche.

Die befreiende Erziehung des Körpers

brauche ich in diesem Gremium kaum zu erwähnen. Lassen wir vielleicht nur die vertrauten Gestalten von Jaques-Dalcroze, von Isadora Duncan, vom Leutnant Müller (den Dalcroze sehr schätzte), mit seiner schwedischen Gymnastik, an unseren Augen vorbeiziehen.

Die Erziehung des Geistes wurde von den damaligen "Pilotschulen" der aktiven Pädagogik angebahnt. Man gedenke hier der Fröbelschulen, der "École J.J.Rousseau" der Schulen Montessori, Decroly und vieler anderen.

Gestatten Sie mir, hier einen kleinen Kommentar einzuschieben:

In die "Ecole Rousseau", damals "Maison des Petits" (Haus der Kleinen) genannt, in Genf, schickte Jaques-Dalcroze seinen eigenen Sohn Gabriel in dieselbe Klasse wie meine ältere Schwester. Jaques Dalcroze kam oft zu Besuch und gab auch hier und da eine Rhythmikstunde. Auch komponierte er das Lied der Schule: "Oh Qu'il fait von dans la Maison des Petits", das wir letzten bei einem Schülertreffen noch gesungen haben. Ein paar Jahre nach Gabriel war ich dort auch Schülerin. Meine Mitschülerin und Busenfreundin war Germaine Duparc, die später, als Nachfolgerin von Mademoiselles Audemars et Laffendel, Vorsteherin der Schule wurde. Unsere bescheidene "Maison des Petits" wurde Übungsschule zum "Institut international des Sciences de l'Education" der Universität Genf. Germaine Duparc war dort Dozentin, bleib aber weiter, im Geist und vor allem im Herzen, die verständnisvolle, gütige "Maìtresse des Petits".

 

Die Erziehung der Seele

(Sofern man zwei so klangverschiedene Begriffe in einem Atemzug erwähnen darf) verdanken wir vor allem den "Wiederentdeckern" des Unbewußten, dem guten Dr. Freud und seinem Thronfolger C.G. Jung. Das Unbewußte, diese unerschöpfliche, stets erneuernde, allen Menschen zugängliche Quelle seelischer Kräfte, ist ein solches Kontinuum, daß es die Grenze zu seinem Gegenpartner, dem Bewußtsein, ständig überspült.

Unter den repräsentativen Figuren der neuen Erziehungsmethoden waren viele persönliche Freunde von Jaques-Dalcroze. Vielen war die Schule in Hellerau bereits bekannt, ob sie sie besucht hatten, oder ob sie dort mitgearbeitet oder gar dort ausgebildet worden waren.

An das Hellerauprojekt waren, wie Sie schon wissen, nicht nur Vertreter der Grunderziehung interessiert, sondern bereits auch Pädagogen verschiedener Sparten (Musik, Tanz, Theater), ferner auch markante Persönlichkeiten aus allen Gebieten der Kunst, Musiker, Maler, Architekten, Tänzer, Schauspieler, Schriftsteller, und dazu (für die Zukunft der Rhythmik als Therapeutik sehr wichtig), mehrere Ärzte.

Aus der ganzen Welt strömten diese Leute nach Hellerau, und damit wurde das Kontinuum auch im Raum gewährleistet.

 

Junge und weniger junge Menschen trafen in der Bildungsanstalt zusammen, wurden dort nicht nur ausgebildet, sondern hatten die Möglichkeit, weltweite Bände der Freundschaft herzustellen, die viele Jahre über das Studium hinaus weiterbestanden. Später besuchte man sich gegenseitig, tauschte Erfahrungen aus, denn in jedem Lande forderte die Praxis eine Anpassung der Methode, sozusagen eine Lokalfärbung, solle der wichtigen Empfehlung von Jaques-Dalcroze nachgelebt werden. "Adaptez la méthode á lélève" (paßt die Methode dem Schüler an). So bildete sich allmählich, wie ein feines, lichtes Gewebe auf weiter Flur, die große Familie der Rhythmiker.

Es kam sogar vor, daß frischgebackene Rhythmiklehrer Mitschüler anderer Nationalitäten in deren Land begleiteten und ihre erste Praxis auf fremdem Boden ausübten. Ähnliches geschah, als Fürst Volkonsky, "ein überzeugter Internationalist" (wie ihn Vera Alecandovna bezeichnet), auf Wunsch Dalcrozens eine bunte Gruppe neuer Lehrer/innen aus Hellerau nach St. Petersburg mitnahm, um in Rußland die Rhythmik zu verbreiten. Der Gruppe gehörten an: Charlotte Pfeiffer aus Deutschland, Theodore Appia aus der Schweiz, Stephan Wissotsky aus Polen, N. Bagenov und Vera Griner aus Rußland.

Ich muß hier eine kleine Erklärung einschieben: Diese Einzelheiten erfuhr ich von Vera Alecandrovna Griner, eine russische Rhythmikerin, die in 1913 in Hellerau diplomierte. Sie starb im letzten Juni im Alter von 102 Jahren. Sie war eine liebe Freundin von mir und ich habe sie oft in Moskau besucht, wo sie wohnte. Sie hat mir aufgetragen, ihre Memoiren aus dem russischen zu übersetzen, was ich gerade fertig ausgeführt habe.

Ich hoffe, sie werden bald erscheinen. Aus diesem Memoiren möchte ich aber manches schon zitieren.

Gleich will ich jedoch über eine kleine, aber erfreuliche Begebenheit berichten: Volkonsky verschaffte damals Vera Griner eine Stelle als Rhythmiklehrerin am Medizininstitut für Frauen (d.h. wo die Frauen Medizin studieren konnten). Dieses Institut war im vorigen Jahrhundert vom Komponisten A. Borodin gegründet worden, der selber Arzt war. Ich habe solche Freude an diesem musik-rhythmischen Kontinuum, daß ich es überall erwähne.

 

Vom Winde in die Weite getragen, können die Samen eines Baumes, auch wenn er verschüttet oder gefällt werden sollte, auf neuem Boden, vielleicht in neuer Form, sein Leben fortsetzen. So verhielt es sich mit Hellerau, als diese Quelle so schöner Ideen und Ideale von zwei Weltkriegen und ihren Begleiterscheinungen verschüttet wurde.

 

Was hier weiter geschah, darüber sprechen andere Referenten. Ich weiß nur, daß es, nachdem der Sturm einigermaßen nachgelassen hatte, viele Jahre, sogar Jahrzehnte dauerte, bis die Verbindungen wiederaufgenommen werden konnten. Jaques-Dalcroze setzte seine Tätigkeit in seiner Heimat fort, in dem von ihm gegründeten "Institut Jaques-Dalcroze" (wo ich von ihm persönlich ausgebildet wurde). Einzelne ausländische Schüler wurden dort ausgebildet und blieben mit dem Institut in Verbindung. Da und dort entstanden wieder Bildungszentren. Auch begegnete man sich in den Internationalen Sommerkursen einzelner Länder. Aber erst anfangs der 50er Jahre trafen wir im größeren Maße mit den Kollegen zusammen, von denen wir praktisch ein halbes Jahrhundert lang getrennt waren.

Die erste "Wiederbegegnung" war für viele eine Erschütterung. Das sollte also auch Rhythmik sein, sah aber so anders aus als unsere, in Ruhe und Frieden entwickelte Arbeit!

 

Schuld daran war das inzwischen Erlebte, das hüben und drüben so verschieden gewesen. Während für geschonte Gegenden die Rhythmik weitgehend als kulturelle (allenfalls kulturell-pädagogische) Angelegenheit angesehen wurde, war sie für schwer geprüfte Länder eine Frage des kulturellen Überlebens, ja manchmal das Überlebens schlechthin. Wir hörten damals, wie manchen Kollegen unter ganz schweren Bedingungen ihre Arbeit fortgeführt hatten. Ich habe mir sogar sagen lassen, daß extrem verzweifelte Situationen dadurch überbrückt werden konnten, daß man, sein Ideal fest im Auge behaltend, sich selber die Mittel angedeihen ließ, mit denen man früher schwachen Kindern geholfen hatte.

Obwohl ich es gerne täte, darf ich hier nicht in Einzelheiten gehen, auch keine Namen nennen, weil die hier erwähnten Leute (meist Schüler von Hellerauschülern) Gott sei Dank noch am Leben sind, und sich vielleicht nicht so gern an diese schweren Zeiten erinnern möchten. Was aber die therapeutische Rhythmik dadurch an Bedeutung gewann, wird niemand in Zweifel stellen.

Jedes Land hatte eine andere, ihn wichtig erscheinende Seite der Rhythmik besonders stark entwickelt, so daß wir auseinander gestrebt waren. Erst nach vielen Auseinandersetzungen, gemeinsamen Experimenten, uferlosen Diskussionen, gelang es, in diesem Urwald eine Richtung auszumachen, die wahrscheinlich zum gemeinsamen Ziel führen konnte,... zum Ziel, das in Hellerau gesetzt worden, in Genf von Jaques-Dalcroze weiterentwickelt, an mancher Stelle der weiten Welt von Nachfolgern in so mannigfaltiger Färbung fortgeführt wurde.

Genau darauf kommt es ja an: Wir sollen einen Zweck verfolgen, aber selbst untereinander verschieden sein und bleiben, sonst können wir einander nicht bereichern. Lassen wir Fürst Volkonsky darüber sprechen. In seinem Brief an Vera Griner (15. Mai 1915) sagte er:

"Jedes Glied unserer Korporation soll sich allen anderen nahe fühlen und seiner Einmaligkeit bewußt werden innerhalb eines Zusammenschlusses um ein gemeinsames Ziel".

"Die Verbindung von Selbständigkeit mit Sinn für Kollektivität ist unser wichtigstes Ziel". So weit Volkonsky

Was die Selbständigkeit anbelangt, vergessen wir nicht, daß die Entwicklung der Persönlichkeit "le développement de la personalité" (heute sagt mach vielleicht: Identität), ihre Kräftigung bedingt. Das war ohnehin von je her eines der Grundanliegen der Rhythmik. Nur eine stark verwurzelte Persönlichkeit kann bei dem Anderen ein "Anderssein" ertragen, denn dann wird dieses "Anderssein" nicht als Bedrohung empfunden, sondern als Möglichkeit einer gegenseitigen Bereicherung.

Der Raum in seiner Vielfalt (viele Länder), bedingt eine Verästelung der Anwendung der Grundprinzipien der Rhythmik.

Die Zeit, indem sie uns immer wieder neue Anforderungen stellt, verlangt auch ein breites Spektrum der Möglichkeiten in der Praxis ... der gleichen Grund- prinzipien.

 

Wohlan! Liebe Freunde. Die Geschichte Helleraus begann am Anfang unseres Jahrhunderts, sie setzte sich, wie ich es geschildert habe, in schillernder Vielfalt fort.

 

Wo und Wann endete sie? Nahm sie überhaupt jemals ein Ende?

 

Wollen wir nicht, liebe Kollegen, zwar in lockerer Formation, aber durch ein gemeinsames Ziel verbunden, an der Geschichte Helleraus weiterspinnen?