Karl Lorenz

04.01.1915-03.08.2009

Karl Lorenz starb 94-jährig am 03.08.2009 in Eslohe

 

Er wird uns fehlen. Sein freundlicher Rat in Fragen zur Rhythmik und deren geistesgeschichtlichem Umfeld, seine vielen Impulse aus einem musischen Wesen, das bis ins hohe Alter lebendig blieb und an der Zukunft ausgerichtet war.  

 

Wenn ein alter Mann stirbt, ist es, als ob eine Bibliothek abbrennt. (Sprichwort aus Mali)

 

Foto: © Jochen Krause

KARL LORENZ wurde am 4. Januar 1915 in Unna/Westfalen geboren. Er entwickelte früh seine Talente in der Musik und begann mit 16 sein Klavierstudium in Dortmund. Als seine Welt noch "aus Klaviertasten" bestand, gewann ihn ELFRIEDE FEUDEL für das Rhythmikstudium. Bereits mit 20 Jahren unterrichtete er Rhythmik und Gehörbildung am Städtischen Konservatorium Dortmund.

Musik, Rhythmik und Tanz bestimmten seinen Berufsweg - doch der 22jährige musste für 8 Jahre zum Kriegsdienst. Nach dem Krieg vermittelte FRITZ JÖDE ihn als Lehrer für musische Erziehung an den neugegründeten Jugendhof Barsbüttel. LORENZ entfaltete eine rege Lehrgangs- und Aufbauarbeit in den Leitungsgremien von Musik- und Tanzarbeitsgemeinschaften, die er auch weiterführte, nachdem er mit 38 Jahren die Remscheider Jugendmusikschule gegründet hat, die er 25 Jahre lang leitete.

Da schien eins ins andere zu greifen: Er entwickelte neue Instrumente (wie die Tischharfe) und erprobte Improvisationsformen in der Gruppe. In der LAG-Musik errichtete er ein Referat Rhythmik, über das er seit 1958 die Internationalen Rhythmikseminare an der Akademie ermöglichte, später knüpfte er mit den Elmauer Studienwochen für Rhythmik und Tanz daran an. Für ein Archiv europäischer Volksmusik trug er Aufzeichnungen, Filme und Tondokumente zusammen, die ihm eine gute Grundlage für 163 Schulfunksendungen von Radio Bremen wurden. Seine internationalen Kontakte brachten ihn an damals noch schwer zugängliche Quellen, z. B. der osteuropäischen Folklore, und schafften seinen eigenen Kompositionen und Schallplattenaufnahmen eine weite Verbreitung - bis nach New York.

Für sein schon jetzt kaum überschaubares Lebenswerk mußte LORENZ die Kunst beherrschen, in viele Rollen zu schlüpfen. Ich erlebte, wie er - dem Menschen immer wichtiger waren als Tagesordnungspunkte - uns nach einer konfliktreichen BR-Sitzung, als wir noch in Debatten verstrickt im Akademie-Keller hockten, aufforderte: "Was sitzt Ihr denn herum, wollt Ihr immer noch nicht tanzen?"

Das Rätsel seiner Fähigkeit, schnell von einer Situation in die andere umzuschalten, habe ich noch nicht herausbekommen. Er setzt sich immer voll für das ein, was er gerade tut und wird dann ganz:

Führungskraft, die 15 Jahre als 1. Vorsitzender des Bundesverbandes Rhythmische Erziehung eine Interessensgemeinschaft zusammenhält, in der schon damals viele so argumentieren, als müsste für jede konzeptionelle Abweichung ein eigener Verband gegründet werden; die als Musikschulleiter Remscheid zu der deutschen Großstadt entwickelt, in der Rhythmik nicht mehr mühsam erklärt werden muss;

Pädagoge, der Strenge und Heiterkeit gleichermaßen ausstrahlt, dem man bei einer Podiumsdiskussion auf dem Musikschulkongreß 1987 in Heidelberg den Satz abnimmt "Wir Musikschullehrer haben nun einmal den schönsten Beruf auf der Welt!"

Wissenschaftler und Autor, der nicht nur Leute wie Hugo KÜKELHAUS, HANS JENNY, F. G. WINTER und FREDERIC VESTER in die Rhythmik-Diskussionen mit einbezieht, sondern selber die Bio-Kybernetik für unser Fach anwendet und alleine in "Rhythmik in der Erziehung" bisher über 100 Beiträge schrieb;

Schriftleiter und Herausgeber, der von 1980 - 1988 "Rhythmik in der Erziehung" redigiert, die zum wichtigsten Dokument der diskutierenden Rhythmikszene in Deutschland wird, Herausgeber von Quellenschriften und "Resonanzen"-Heften zum Thema Rhythmik, darunter so originellen wie "Musik-Rhythmik-Architektur";

Diplomat, der die Seminarleiter zu einer gemeinsamen Verabschiedung der "Vorschläge zur Ausbildung von Rhythmiklehrern aktiviert und der in der Schulbürokratie einen Modellversuch Rhythmik und Tanz durchsetzt;

Archivar, der nicht nur Schriften und Dokumente aus der Rhythmikgeschichte sammelt (und Schenkungen erfolgreich anregt), sondern sich auch um einen Platz kümmert, an dem sie jedem Forschenden zur Verfügung stehen;

- Formulierungskünstler, der sich bei seinen Reden so flexibel auf die jeweilige Zielgruppe einstellen kann, dass ihn jeder versteht und selbst Politiker mit seinen Stegreifkünsten beeindruckt, wie in seinem Dank bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes;

- Impresario, Organisationstalent, künstlerischer Interpret, Vortragsreisender, Geschichtenerzähler, Realpolitiker, Charmeur, Regisseur, Aufnahmeleiter ...

Er verkörpert vor allem einen Aspekt moderner Rhythmik in der nachfeudelschen Phase: die Vielseitigkeit. In aktuellen Fragen reagierte LORENZ immer schnell, so wie er im letzten Sommer auf dem Rhythmik-Kongress seine Ideen einer "Rhythmik und Europa" vertrat; gegenwärtig steht Hellerau auf der Tagesordnung.

Viele Rhythmiklehrer sind noch in hohem Alter tätig. "Woran mag es liegen, dass sie zudem so gut wie keinen Ruhestand zu kennen scheinen ... ?" Dies schrieb KARL LORENZ der Wiener Professorin BRIGITTE MÜLLER zum 80. Geburtstag. Ob er ihr Geheimnis kennt? Man wird noch vieles von ihm erwarten dürfen, z. B. eine Veröffentlichung der Barsbütteler Tänze, die gerade zum 40. Jubiläum wieder am Entstehungsort aufgeführt wurden.

Man kann nur ahnen, welche Bedeutung der Lebens- und Schaffensgemeinschaft mit seiner Frau, THILDE LORENZ-RINGLAGE, zukommt, die wir einerseits gerne in unsere Lobrede einschließen möchten, der andererseits - wie vielen Partnerinnen von "Arbeitswütigen" - eine eigene Laudatio gebührt.

Schließen wir mit einem Gebet, das KARL LORENZ seinen Freunden gerne verschickt: ... und lasse die, die rechtschaffen sind, auch recht schaffen.

Reinhard Ring

gekürzt aus Rhythmik in der Erziehung  1/1990