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Symposium "Die Identität der Rhythmik", Biel 1996 

Das Bieler Symposium setzte sich mit konzeptionellen Fragen zur Rhythmik auseinander. Unsere Diskussion wird sicher fruchtbarer, wenn wir diese Texte nicht ignorieren. Daher haben wir hier den ersten davon ins Netz gestellt. Feedback Forum

Die Arbeit des Dalcroze-Rhythmikers im deutschsprachigen Kulturraum 

Symposium "Die Identität der Rhythmik", Biel 1996 Reinhard Ring/ Marie-Laure Bachmann
 
Karl Heinrich Ehrenforth zur Rhythmik

Grazyna Przybylska-Angermann - 
Rhythmik als Prävention in der Musikerausbildung

 

Karin Jehrlander - Fünfertakte
Annette und Moritz Hartung - Rhythmik in ehemaligen Kriegsgebieten - Musiegt in Bosnien
Reinhard Ring - Rhythmik - das Spezielle daran

Silvia del Bianco/ Paul Hille

Normale Schrift = Silvia Del Bianco, Kursive Schrift = Paul Hille

(leicht gekürzte Fassung, teilweise Schweizer Orthographie)

Rhythmik heute

Welche Möglichkeiten bestehen für Rhythmikerinnen und Rhythmiker aus dem deutschsprachigen Raum auf dem Arbeitsmarkt?

 

Vorbereitende Schulen:

-  Kinderhorte, Kindergärten

Schulen:

- Primarschulen, Sekundarschulen, Weiterbildungsklassen

 

Musikschulen:

- Eltern-Kind-Rhythmik, Rhythmik, Rhythmik-Solfège (Gehörbildung), Musikeinführungs-kurs

 

Heilpädagogik

- Weiterbildungsklassen, Heime, therapeutische Organisationen, Spitäler

 

Fachhochschulen:

- Lehrerausbildung, Kindergartenseminare, Berufsschulen, Konservatorien, heilpädagogi-sche Institutionen, Sozialarbeiterschulen, Gymnastik- und Tanzschulen, Jazzschulen

 

Freiberufliche Tätigkeiten:

- Private Kurse für Kinder und Erwachsene, kulturelle Aktivitäten

- Klavierbegleitung in Tanzschulen

- Arbeit mit alten Menschen

- Arbeit an Volkshochschulen und in diversen Institutionen

 

Die Aufgabe der Rhythmikerinnen und Rhythmiker im deutschsprachigen Raum ist natürlich nicht einfach. Die Rhythmik hat hier nicht denselben Stellenwert und nicht dieselbe Tradition wie in den Kantonen Genf und Waadt.

In den meisten Fällen muss die Rhythmikerin Pionierarbeit leisten. Sie muss die Rhythmik bekannt machen, deren Bedeutung erklären, ihre Prinzipien erläutern und kämpfen, um ihr in den verschiedenen Institutionen einen Platz zu schaffen. Ihr fachliches Können genügt nicht Sie muss äusserst initiativ, motiviert, flexibel und engagiert sein.

Da die Rhythmik in den Kindergärten und Schulen kein obligatorisches Fach ist, muss der Rhythmiker dafür sorgen, dass er aus seiner Isolierung herauskommt, dass seine Arbeit anerkannt wird.

Seine Aufgabe ist nicht einfach. Oft muss er sein Körpertraining dafür einsetzen, um mit sei-nem Unterrichtsmaterial auf dem Rücken von einem Arbeitsort zum anderen zu laufen. Kommt dazu, dass wir in ein und demselben Kulturraum auf Rhythmikkolleginnen und –kollegen treffen, für die ”Rhythmik” vielleicht ganz. unterschiedliche Bedeutungen hat.

In dieser vielfältigen Wirklichkeit muss der Rhythmiker Jaques-Dalcroze seine innere Kraft zu Hilfe nehmen, um sich dieser komplexen Situation anzupassen, seine Identität zu wahren und seine Ziele zu erreichen.

 

Die Identität des Jaques-Dalcroze - Rhythmikers

 

Als Rhythmiker und Fachperson einer Erziehungsmethode fühlen wir uns verantwortlich und brauchen innere Kohärenz und eine Systematisierung der Prinzipien, die unseren Unterricht bestimmen.

Wir verspüren dieses Bedürfnis um so stärker, wenn wir Fragen beantworten müssen, die von aussen an uns herangetragen werden, von einer Umgebung, in der die Rhythmik Jaques-Dalcroze fremd ist.

Welches sind die Hauptaspekte, welche die Rhythmikerin Jaques-Dalcroze als Grundlage ihrer Identität bewahren muss?

An erster Stelle steht die Auffassung der Rhythmik als Musik- und Körpererziehung zur Entfaltung des Menschen in seiner persönlichen und sozialen Entwicklung.

Zweitens ist die Rhythmik gemäss ihrer ursprünglichen Vorstellung eine Erziehung durch die Musik und für die Musik. Das ”Durch” und das ”Für” haben dabei denselben Stellenwert. Die Musik ist bei dieser Erziehungsmethode ein Mittel, sie ist aber vor allem, das Ziel dieser Erziehung.

Drittens hat die Rhythmikerin Jaques-Dalcroze kein Handbuch, das sie als Modell ihres Unterrichts beiziehen könnte. Sie entwirft und organisiert ihre Kurse selbst und adaptiert und kreiert Übungen nach ihren Bedürfnissen.

Viertens muss der Rhythmiker später, wenn er sich selbst überlassen ist, aus seinen Mitteln diejenigen auswählen, die ihm für die gegebene Situation am geeignetsten erscheinen. Dank seiner Erfahrung, seinem Können und der Vielfalt seiner Praxis ist er in der Lage, gewisse Entscheide zu fällen.

Fünftens spielt die Improvisation eine präzis umrissene und äusserst wichtige Rolle in der Unterrichtsmethode nach Jaques-Dalcroze. Einerseits ist die Improvisation ein pädagogisches Prinzip, andrerseits gilt die Improvisation am Klavier als grundlegendes Mittel des Unterrichts nach Jaques-Dalcroze. Der Improvisator Jaques-Dalcroze muss die Qualität des Ausdrucks, der Phantasie, der Präzision bei sich selbst finden, damit sein ”Klavierwerk” Hörerlebnis und Körperbewegung (und umgekehrt) in Einklang bringen kann.

Sechstens besteht die Aufgabe der Rhythmik darin, zwischen Musik, Körper, Raum, Gruppe und Material Verbindungen zu schaffen.

Als Musikerzieherin integriert und fördert die Rhythmikerin durch ihre Vorgehensweise die individuellen körperlichen Äusserungen des einzelnen mit dem Ziel, ihn in die Welt der Musik einzuführen. Dies ist zweifellos ihre wichtigste Aufgabe und gewissermassen ihre ”Spezialität”.

 

Emile Jaques-Dalcroze (in der Folge EJD) ging Ende des letzten Jahrhunderts zuerst von der Musik und ihren erzieherischen Möglichkeiten aus, um später zu erkennen, dass die Durchdringung von Musik und Bewegung in der Schule und auf der Bühne weitere noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten besitzt, zu einem ‘Laboratoire d‘une humanité nouvelle‘ zu gelangen.

Der Ausspruch Dalcrozes der Erziehung durch die Musik und für die Musik (”que la Rythmique soit considérée comme une mode d‘éducation par la musique et pour la musique, provoquant d‘abord l‘émancipation des essors spontanés et inconscients, puis leur ordination rationelle.” La grammaire de la Rythmique, in: Le rythme, Nr. 17, 6/26, S. 3) bildet die Wurzeln für den ‘Baum Rhythmik‘ in seiner heutigen Gestalt Dabei bildet die Methode Jaques-Dalcroze nur noch einen Ast, einen appollinisch-wohlgeformten zwar. Man kann im Rhythmikunterricht die Waagschale zugunsten der Erziehung durch die Musik oder die andere Seite betonen: die bewusste Musikerziehung. Beide Seiten sind für die Analyse zu trennen. In Wirklichkeit sind sie miteinander verbunden. EJD‘s Aussprüche sind so auch einmal eher unter dem allgemeinerzieherischen Aspekt, ein andermal eher unter dem musikerzieherischen zu verstehen. Hier beschreibt EJD z.B. die Auswirkungen der rhythmisch metrischen Übungen:

”Eins der ersten Ergebnisse dieser Übungen, die einerseits die Zahl der automatischen Vorgänge vermehren und ein vollendetes Muskelspiel gewährleisten, andererseits raschere und sichere Verbindungen zwischen den beiden Polen unseres Wesens herstellen und den ungehemmten Ablauf unserer natürlichen Rhythmen fördern sollten - eins der ersten Ergebnisse dieser Übungen wird sein, dass das Kind [der Mensch, der Verf] sich selber kennen, sich selber beherrschen und Macht über seine eigene Persönlichkeit gewinnen lernt. Wohl vertraut mit dem wunderbaren Mechanismus dieses herrlich gebauten Leibes, der uns gegeben ward, damit wir ihn zum würdigen Gefäß unserer Seele bilden; (...) Desgleichen bildet sich seine Einbildungskraft.”

(EJD, in: Rhythmus, Musik und Erziehung, Genf 1977, S. 74, in der Folge RME)

 

Die Schüler oder Studenten erleben musikalische Rhythmen und andere Parameter am eigenen Leibe, stellen Musik in Bewegung dar und regeln ihre Bewegungen nach der gehörten bzw. gesungenen Musik in der Zeit. Wir wissen, wie schwer es z.B. ist, im Offbeat zu einer Musik zu klatschen, wie man jeden kleinen Fehler hört oder koordinationsmäßig immer wieder an körperliche Grenzen stößt. Diese körperliche Erziehung zum Rhythmus sah EJD durchaus auch als Erziehung durch Musik an, welche die gesamte Person verändert.

”Zahlreiche Übungen unserer rhythmischen Methode zielen darauf ab, das Konzentrationsvermögen zu steigern. (...) Des weiteren wollen diese Übungen zahlreiche motorische Gewohnheiten und neue Reflexe erzeugen, den Geist dadurch beruhigen, den Willen kräftigen und im ganzen Organismus Ordnung und Klarheit stiften.”

(EJD, RME, a.a.O.)

 

Die Erziehung zur Musik bildet die andere Seite der Waagschale. EJD fragt:

“Kann man musikalisch gutbegabten Kindern beibringen:

1. Die innere und äußere Musik zu hören, wahrzunehmen, zu empfinden?

2. Vom Blatte zu lesen?

3. Zu phrasieren und zu nüancieren, ohne knechtisch einem gegebenen Muster zu folgen?

4. Zu transponieren?

5. Zu improvisieren? (...)

6. Verständnis und Gefühl, das heißt Liebe für die Musik?” (RME, S.46)

 

Wobei der Begriff ‘musikalisch‘ interessant ist.

In der ‘Didaktik der Klavierimprovisation‘ an der Musikhochschule Wien antwortete eine Studentin auf die Frage, wie eine ideale Klavierlehrerin sein sollte mit einem Katalog von Begriffen, wie einfühlsam, phantasievoll, empfindsam, sinnlich und musikalisch. Auf die erneute Frage, was denn ‘musikalisch‘ für sie bedeute, kamen wir in der Gruppe zu einem Katalog von Begriffen, die sich mit den vorhergenannten deckten (bis auf ‘freundlich‘). Marie-Laure Bachmann beschreibt die vier Merkmale, die Emile Jaques-Dalcroze für den Musiker für wichtig hält:

”1. la finesse de l‘oreille

 2. la sensibilité nerveuse

 3. Je sentîrnent rythmique

 4. la faculté d‘extérioriser spontanément les sensations émotives.”

(ML Bachmann, Les fondements théoriques de la rythmique Jaques-Dalcroze á l‘appui de l‘identité du rythmicien, Genf; 1985, S. 6)

 

Uns ist klar, dass neben diesen Fähigkeiten auch spezielle Fertigkeiten für den Musiker vonnöten sind.

 

 

Das Erbe von Jaques-Dalcroze

 

Wir kommen kurz auf das Erbe von Emile Jaques-Dalcroze zurück, um verschiedene grundlegende Aspekte unseres heutigen Themas besser erfassen zu können.

Durch seine facettenreiche Persönlichkeit hat Jaques-Dalcroze uns ein Erbe als Theatermann, Schriftsteller, Denker, Komponist, Pädagoge und Forscher hinterlassen.

Von all diesen Facetten wollen wir zwei näher betrachten:

1. Das Erbe von Jaques-Dalcroze als ”Denker”, seine philosophischen Ideen, seine Auffassung des Menschen, seine Vorstellung vom Bedürfnis der Harmonisierung aller seiner Fähigkeiten. Dieser Zweig seines Erbes führt zu den Tendenzen der modernen Pädagogik, zur allgemeinen und künstlerischen Erziehung im weitesten Sinn.

 

2. Das Erbe von Jaques-Dalcroze als ”Pädagoge” und ”Forscher”, der Teil, der praxisorientiert ist, der Experimente macht, in Frage stellt, nachdenkt, Hypothesen aufstellt, Schlussfolgerungen zieht. Dieser zweite Zweig seines Erbes führt zu seiner Konzeption der Rhythmik als musikalische und körperliche Erziehungsmethode. Er erlaubte ihm, sein pädagogisches System aufzubauen.

 

Versetzen wir uns in die Lage all dieser Studentinnen und Studenten, die ihn entweder in Hellerau, Genf oder anlässlich seiner Demonstrationstourneen in verschiedenen europäischen Städten getroffen haben. Die Dauer ihrer Studienaufenthalte oder ihrer Ausbildung war je nach Ort und Zeitpunkt unterschiedlich. Sicher wurden alle von seinem Können geprägt, erlebten alle eine Einführung in diese neue pädagogische Auffassung und verspürten ein grosses persönliches Verlangen, ihren Hunger nach neuen, lebendigen, “wahren” Ideen zu stillen.

Bei all diesen Generationen von Studentinnen und Studenten gab es ”Passanten” und ”Bleibende”. Die ”Passanten” waren für eine begrenzte Zeit gekommen und zogen weiter, um sich weit vom Meister entfernt niederzulassen. Bei den ”Bleibenden” gab es solche, die nach ihrer Ausbildung im Umfeld von Jaques-Dalcroze weiterarbeiteten.

 

Die berufliche Wirklichkeit war für beide äusserst unterschiedlich. Jene, die blieben, wurden vom Meister gehätschelt, unterstützt, beeinflusst, während die ”Passanten” sich allein einer anderen Realität stellen mussten und sich nur auf ihre Erfahrungen und Erinnerungen und auf die Schriften von Jaques-Dalcroze stützen konnten. Sie wurden mit sich selbst konfrontiert und mussten ihre eigenen Meister werden.

Wir können sagen, dass die ”Bleibenden” weiterhin Studenten des Meisters waren, während die ”Passanten” gezwungenermassen zu Lehrern wurden.

Dieser geographischen Realität verdanken wir sicher die spätere Entwicklung der Rhythmik und die Verteilung so markanter Rollen in ihrer Geschichte, in der Genf mit dem Zentrum des Instituts Jaques-Dalcroze die Rolle der Verwalterin des direkten Erbes, des “Know-hows” spielt. Andere Rhythmikschulen der Schweiz und des Auslandes (in Deutschland und Österreich) haben das Genfer Modell nicht übernommen, sondern haben die Initiative ergriffen, um in diesem philosophischen und pädagogischen Konzept neue Inhalte, Prinzipien und Perspektiven zu entwickeln.

 

Kurzer Abriss der Geschichte der Rhythmik in der Schweiz

 

Emile Jaques-Dalcroze war sein ganzes Leben lang durch seine persönliche Arbeit, seine Lektionen, seine Schriften, seine Reisen, seine Vorträge und seine Demonstrationen darauf bedacht, sein pädagogisches, künstlerisches, philosophisches und menschliches Ideal zu entfalten.

Mit der Gründung des Institut Jaques-Dalcroze in Genf nach seiner Rückkehr von Hellerau im Jahre 1915 beginnt für die Rhythmik in der Schweiz ein grosser Augenblick.

Viele sind ihm begegnet. Folgende Personen haben auf die eine oder andere Weise die Richtung zur Entwicklung der Rhythmik in der Schweiz beeinflusst: Paul Boepple in Basel von 1904 an; Gustav Güldenstein in Basel von 1921 bis 1953 und in Luzern von 1942 bis 1962; Mimi Scheiblauer in Zürich ab 1912. Vor allem mit Paul Boepple und Mimi Scheiblauer nimmt der Einzug der Rhythmik in die Schule, in die allgemeine Pädagogik und in die Heilpädagogik ihren Anfang.

In diesem neuen Kontext werden gewisse Aspekte der Rhythmik nach und nach anders betrachtet als von ihrem Schöpfer vorgesehen, und eine grosse Umwandlung des ursprünglichen Konzepts der Rhythmik beginnt. Mimi Scheiblauer definiert die Rhythmik als ”Erziehung, die von der Bewegung ausgeht und von der Musik unterstützt wird”. Wir stellen fest, dass sie nicht nur der Bewegung mehr Gewicht verleiht, sondern, dass die Musik der Bewegung untergeordnet wird. Die Musik ist bei dieser Erziehung nicht länger Ziel, sondern bloss noch Zweck. Hier haben wir es zweifellos mit einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte der Rhythmik in der Schweiz zu tun. Diese neue Tatsache kann als Abwandlung des ursprünglichen Konzepts der Rhythmik verstanden werden. Sie kann auch als Spaltung zwischen zwei verschiedenen Umfeldern (Westschweiz — Deutschschweiz) aufgefasst werden. Es gibt sicher zahlreiche Faktoren, die diese Richtungsänderung bewirkt haben. Diese unterschiedlichen Entwicklungen haben sich im Laufe der Zeit und der Generationen noch verstärkt, und heute finden wir sie immer noch teilweise auf gewissen Gebieten der Rhythmikausbildung in der Schweiz.

Nach Genf begann 1926 am Konservatorium von Zürich unter der Leitung von Mimi Scheiblauer die zweite Schule mit der Berufsbildung.

Auch das Konservatorium Basel bot unter der Leitung von Gustav Güldenstein bis 1953 eine Ausbildung an.

In Biel wurde die Ausbildung erstmals 1962 angeboten, dank der Initiative von Leni Reinhard.

1974 begann am Konservatorium von Luzern eine neue Ausbildung (zu Beginn in Teilzeit) unter der Leitung von Hans Zihlmann.

Heute hat jeder Ausbildungsort seine Ausrichtung und seine Besonderheiten. Nach einer äusserst langen Zeit ohne starke Beziehungen zwischen diesen Institutionen ist in den letzten Jahren eine Bewegung des Austausches und der Kontakte entstanden. Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung und arbeiten an einer Verstärkung dieser Bewegung. Wenn wir die Rhythmik erhalten und weiterentwickeln wollen, müssen wir mit Enthusiasmus und Vertrauen an die Arbeit und mit der festen Überzeugung, dass eine gewisse Veränderung der Rhythmik nicht unbedingt zu einem Verlust unserer eigenen beruflichen Identität führen muss, sondern dass sie zu einer Ausweitung unserer Kenntnisse führt, indem sie uns erlaubt, neue Perspektiven zu entdecken. Vielleicht besteht darin unsere einzige Hoffnung, eines Tages die Schaffung eines ”Schweizerischen Verbandes der Rhythmiklehrerinnen und –lehrer” zu erleben.

 

 

Einige Anmerkungen zur historischen Situation im deutschsprachigen Raum

 

E. Witoszynskij schreibt zu EJD (“Plädoyer für das Fach Rhythmik”, in: Üben & Musizieren, 2195, S.    3 f.):

”Im Geiste reformpädagogischer Ideen strebte er mit seiner Methode die Einheit von Körper, Geist und Seele an. Dalcrozes Schüler haben seine Arbeit weiterentwickelt, wobei bereits in der ersten Generation künftige Entwicklungslinien deutlich wurden. (...) Ernst Ferand, einer seiner Nachfolger als Lehrer an der Bildungsanstalt In Hellerau bei Dresden, versuchte dieser kritischen Betrachtung [von Wigman, der Verf.] entgegenzutreten, ‘indem wir an zwei Punkten zugleich ansetzen: an dem musikalischen Empfinden und dem Körpergefühl‘.”

 

Die erste Generation nach Dalcroze bildete eigene Konzepte und erschloss sich neue Aufgabengebiete. In der darauffolgenden Generation haben wir Scheiblauer- und Feudel-Schülerinnen in Deutschland oder anschließend Schulen, wie etwa die Detmolder-,  Freiburger,- Hannoveraner,- Münchener-, Stuttgarter-, Trossinger-, Wiener-Schule und viele mehr.

Heutige RhythmikstudentInnen wissen leider nicht viel von den Wurzeln in der Methode Jaques-Dalcroze und verstehen auch nicht den Zusammenhang, wenn sie vielleicht einmal in ihrem Leben Kontakt mit Genf haben.

 

Die Rhythmikausbilder forschten in ihrem Unterricht und entwickelten sich weiter. In Verbindung mit verschiedenen Zielgruppen, wie man es heute wohl nennen würde, entstanden, um einige zu nennen, z.B Gerda Alexanders Eutonie, Rosalia Chladeks ‘musikalisches‘ Bewegungssystem, G. Spiess-Jaenickes Ansatz der Darstellung als integrativem Anteil in der Rhythmikausbildung, Konrads Entwurf einer Theorie für Erwachsenenrhythmik usw. Dabei entstanden Etiketten, die von fachfremden Personen oder unwissenden Schülern benutzt und vielleicht sogar missbraucht wurden. Heute erleben Rhythmiker bisweilen, dass in einer bestimmten Institution beispielsweise “nur Scheiblauer-Rhythmik” unterrichtet werden soll (so von einer Kollegin in Wien vor einigen Monaten gehört, es betrifft eine Sozialakademie). Oder RhythmikerInnen müssen an der Musikschule musikalische Früherziehung und Grundausbildung unterrichten, ev. sogar mit fixem Lehrplan, denn in den siebziger Jahren, als der Baum Rhythmik in Deutschland enorm auswuchs, kümmerte sich kaum jemand um die Pflege der musikpädagogischen Wurzeln, bzw. man versäumte, den elementaren Musikerziehern die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Erziehung durch Musik zur Musik theoretisch zu erklären. Heute haben diese schon aufgeholt und sprechen ihrerseits von ganzheitlicher Erziehung, haben sich an den im deutschsprachigen Raum in der Rhythmik entwickelten Methoden weitergebildet, z.T selber weitergeforscht, und bieten z.B. auch Kurse für Erwachsene an.

Ungeachtet dieser nicht ganz leichten Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt haben RhythmikerInnen und deren AusbilderInnen untereinander bisweilen Schwierigkeiten mit Meinungs- einungsvielfalt und Kommunikation. So scheint die Situation des einzigen deutschen Fachorgans (Rhythmik in der Erziehung) seit dem Ausscheiden des langjährigen Chefredakteurs Karl Lorenz eher kritisch. Kein Wunder, wenn gleich mehrere Kollegen ein unstetes Niveau der abgedruckten Artikel kritisieren und aus diesem Grunde dort nicht veröffentlichen.

Eine Barriere zwischen Dalcroze-Rhythmikern und anderen bildet in diesem Zusammenhang die Sprache. So finden wir im ansonsten so umfassenden Buch Schaefers keinen Hinweis auf Publikationen von Bachmann, Vanderspar, Findley und weiteren. Leider sieht es auf der Seite der Dalcroze-Publikationen umgekehrt vergleichbar aus.

 

 

Parallelen zwischen der Ausbildung in Biel und Genf

 

Das Rhythmikseminar in Biel ist 1962 gegründet worden. Am Anfang war der Unterricht ausschliesslich auf die Methode von Emile Jaques-Dalcroze ausgerichtet. Der erste Teil der Ausbildung erfolgte in Biel und der zweite am Institut Jaques-Dalcroze in Genf. Seit 1980 kann die ganze Ausbildung in Biel absolviert werden. 1988 wurde unser Seminar autonom.

In unserem Lehrplan haben wir drei Rhythmikrichtungen:

 

1.  Rhythmik musikzentriert (E. Jaques-Dalcroze)

2.  Rhythmik prozessorientiert (M. Scheiblauer)

3.  Rhythmik perkussionsorientiert.

 

Als ich 1987 nach Biel kam, war ich zu Beginn der Auffassung, dass verschiedene Rhythmikrichtungen in derselben Ausbildung die Studentinnen und Studenten verwirren könnten. Ich habe die Situation beobachtet und mit der Zeit festgestellt, dass sie bereichernd war und angesichts der Entwicklung des Seminars beibehalten werden sollte – einer Entwicklung, bei der die späteren beruflichen Bedürfnisse unserer Studierenden berücksichtigt wurden.

Beim Vergleich der Ausbildung in Biel und Genf finden wir Ähnliches und Unterschiedliches. Gleich sind bei beiden Ausbildungen die Fächer, die auf den Prinzipien von Jaques-Dalcroze basieren und die in Biel von Rhythmikern Jaques-Dalcroze erteilt werden, die die Kriterien des Gründers respektieren: musikzentrierte Rhythmik, Improvisation für den Unterricht, ein Teil der Globalkurse, ein Teil der Methodik und Didaktik, das Rhythmikpraktikum im Kindergarten, das Solfègepraktikum in den Kinderklassen der Musikschule.

Unterschiedlich sind die Fächer, die auf anderen Prinzipien basieren, die in Biel von qualifizierten Lehrkräften erteilt werden nach Kompetenzkriterien wie: prozessorientierte Rhythmik, perkussionsorientierte Rhythmik, Gehörbildung, therapeutische Rhythmik, Praktikum in therapeutischer Rhythmik.

Allgemein kann gesagt werden, dass Genf von einem homogenen Konzept der Rhythmik im ganzen Lehrkörper profitiert Aus praktischer Sicht besteht für die Rhythmiklehrerinnen und -lehrer während der Ausbildung die Möglichkeit, Fächer wie Gehörbildung, Harmonielehre, Stimmbildung, Chor, Bewegungsschulung und Eutonie zu unterrichten. Dies stärkt die Einheit der Institution zusätzlich.

Biel profitiert von einem heterogenen Rhythmikkonzept, und sein Lehrkörper ist an verschiedenen Orten ausgebildet worden. Aus praktischer Sicht besteht weniger die Möglichkeit, verschiedene Fächer zu unterrichten. So beruht innerhalb der Ausbildung zum Beispiel die Gehörbildung auf der Methode Kodály, und die Harmonielehre wird traditionsgemäss von einem Lehrer erteilt, der in derselben Gruppe Studentinnen und Studenten vom Rhythmikseminar und vom Konservatorium unterrichtet. Wir verfügen nicht über eine grosse Zahl von Jaques-Dalcroze-Lehrkräften mit zusätzlicher Ausbildung, die ihnen erlauben würde, kompetent andere Fächer des Lehrplans zu unterrichten. Angesichts unseres heterogenen Konzepts der Rhythmik innerhalb unserer Schule und in der Absicht, Einheitlichkeit anzustreben, wird ein Fach von demselben Lehrer während der ganzen vier Ausbildungsjahre erteilt. So unterrichte ich beispielsweise die Improvisation vom ersten bis zum vierten Jahr.

 

 

Kurzer Vergleich der Ausbildungsgänge im deutschsprachigen Raum mit Genf

 

Die Studiensituation ist an deutschsprachigen Hochschulen, ähnlich derjenigen in Biel, in der Regel so, dass Studentinnen in zentralen künstlerischen Fächern von RhythmiklehrerInnen unterrichtet werden.

Rhythrnikausbilder arbeiten in kleinen Teams zusammen, denn nicht jeder Rhythmiker kann in der Realität ”zugleich Physiologe, Seelenkenner und Künstler sein” (EJD, RME S. 75). Für die Bereiche Sonderpädagogik, Klavierimprovisation, Choreographien gibt es neben einem allgemeinen Profil auch viele weitere spezielle Fertig- und Fähigkeiten, die vonnöten sind.

Der größte strukturelle und inhaltliche Unterschied zur Genfer Rhythmik besteht wohl in der Zusammenfassung der Jahrgänge in Gruppen und nicht nach Leistungskriterien in den drei Hauptfächern rythmique, improvisation au piano und solfège. Die ‘rein musikalischen Fächer‘ werden in der Regel an Spezialisten abgegeben: Gehörbildung, Geschichte der Musik, Formenlehre, Tonsatz etc. Was im Bereich des Hauptfaches Rhythmik abgestimmt erscheint, trifft nicht auf die Nebenfächer zu. Das liegt auch daran, dass Rhythmiker an einer Musikhochschule wie andere Musikstudenten an bestimmte Ausbildungsinhalte gebunden sind. Ein großer Vorteil besteht aber gerade in den Kontakten mit anderen Musikern und dem Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.

Die Zeit ist reif, dass wir alle voneinander lernen könnten.

Im Kollegium in Wien, wo Vertreter verschiedenster Bereiche innerhalb der Rhythmik, wie etwa konzentrativer Körperarbeit oder Sonderpädagogik zusammenarbeiten, geht die Tendenz dahin, sich schwerpunktmäßig auf die jeweiligen Anwendungsbereiche der rhythmisch-musikalischen Erziehung zu konzentrieren. Dabei ist jeder Fachvertreter für seinen Arbeitsbereich gefragt. Wir haben in unseren Studienplan die Möglichkeit zu einer leichten Spezialisierung aufgenommen. So können ab dem vierten Semester spezielle Angebote in Schwerpunktthemen gewählt werden, beispielsweise in den Bereichen Sonderpädagogik, Klavierimprovisation und Bewegungsbegleitung (am Klavier und am Schlagwerk), zweites Instrument, Popularmusik etc. Dies wird hoffentlich dazu dienen, Rhythmiker leichter in verschiedene Arbeitsbereiche zu integrieren. Die Spezialisierung hat jedoch nur dann einen Sinn, wenn Rhythmiker auf gemeinsame historische wie inhaltliche Wurzeln zurückgreifen können und sich untereinander zumindest verstehen, wenn sie auch an verschiedenen Arbeitsplätzen unterschiedliche Arbeit leisten.

 

 

Die Integration der drei grundlegenden Fächer der Ausbildung Jaques-Dalcroze

 

Wie lassen sich die drei grundlegenden Fächer Rhythmik, Improvisation und Gehörbildung der Ausbildung Jaques-Dalcroze in den deutschen Kulturkreis eingliedern?

Wie habe ich die Rhythmik in meinen Unterricht integrieren können? Angesichts der Jaques-Dalcroze-Tradition des Rhythmikseminars Biel bezüglich des Inhalts des Faches fiel es mir nicht schwer, die Themen und Prinzipien von Jaques-Dalcroze anzuwenden. Wir verfügen über weniger Stunden der Rhythmik Jaques-Dalcroze als Genf. Es liegt somit in der Verantwortung der Lehrerin, die Themen auszuwählen und die Zeit, die sie jedem widmen will, zu bestimmen.

Angesichts des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds gibt es eine Reihe von Punkten, die ich berücksichtigen und an die ich mich anpassen musste:

1.  gewisse kulturelle Eigenschaften,

2. die Vorstellung der Beziehung Studierende -Lehrpersonen in der deutschsprachigen Kultur,

3.  die Möglichkeiten, die behandelten Themen im künftigen Berufsleben anwenden zu können.

 

 

1.   Aufgrund gewisser kultureller Eigenschaften bestehen Unterschiede in der Gruppe bezüglich Lehrzeit, Selbständigkeit, persönlicher Atmosphäre, in der die Studierenden lernen, und der Fähigkeit, seine Motivation zu zeigen.

2.   Die Vorstellung der Lehrer-Schüler-Beziehung hat sich während der ganzen Schulzeit herausgebildet. Wenn ich von meiner eigenen Kultur oder der Westschweizer Kultur ausgehe, in der ich unterrichtete, gründet die Lehrer-Schüler-Beziehung angesichts der unterschiedlichen Rollen meiner Meinung nach auf einer Vorstellung von hierarchiebedingtem Respekt. Es gibt Lehrende und Lernende. Aus meiner Erfahrung besteht in der Deutschschweiz das Hierarchieprinzip in dieser Beziehung nicht. Es gibt zwei Seiten, denen dasselbe Gewicht und dieselbe Wichtigkeit zukommen.

3.   Die Möglichkeiten der Anwendung der behandelten Themen in der künftigen beruflichen Tätigkeit. Da in den Deutschschweizer Kantonen Rhythmik kein obligatorisches Schulfach ist, muss die Deutschschweizer Rhythmikerin sich selbst einen Platz schaffen, Initiative entwickeln und äusserst anpassungsfähig sein, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können.

 

 

Aus Sicht der konkreten Unterrichtslektion haben mich die durch das kulturelle Umfeld bedingten Unterschiede veranlasst:

·      weniger Übungen pro Lektion einzuplanen,

·      jedem Thema mehr Zeit zu widmen,

·      mehr auf die Gruppe zu hören (keine Übungen gegen den Willen der Studierenden),

·      die Themen mehr über die Sinne anzugehen,

·      mehr Zeit zur Verfügung zu stellen, um auf eigene Weise zu experimentieren und zu verinnerlichen,

·      ”Verdauungszeit” der Studierenden zu respektieren,

·      mehr Autonomie zu gewähren (Lehrerunabhängigkeit),

·      die Gruppe nicht mehr zu ”animieren” oder ”vorwärtszuziehen”, sondern gewisse Themen und Übungen, die ich für ihre Ausbildung als unerlässlich betrachte, selbst entdecken und bearbeiten zu lassen,

·      die Studierenden für ihre Arbeit, ihr Engagement und ihre Motivation Verantwortung übernehmen zu lassen.

 

Was die Improvisation auf dem Klavier und ihre Eingliederung in das Rhythmikseminar von Biel anbelangt, bestehen wahrscheinlich grössere Unterschiede als bei der Integration der Rhythmik. Diese Unterschiede haben verschiedene Gründe:

1.    In Biel wird ein weniger hohes Niveau des Klavierspiels zu Beginn des Studiums vorausgesetzt als am Institut Jaques-Dalcroze, was das Lehrprogramm beeinflusst.

2.    Weniger Stunden in den lmprovisations-Nebenfächern wie Gehörbildung, Harmonie- und Formenlehre, Globalkurs, alles Fächer, die für die Unterstützung der Improvisation am Klavier wichtig sind.

3.     Die Tatsache, dass in den Praktika die Improvisation am Klavier wie die Improvisation mit der Stimme oder den Perkussionsinstrumenten als Mittel einer Konzeption der Rhythmik als Erziehungsmethode durch die Musik und weniger für die Musik verwendet werden.

 

 

 

Die drei Säulen der Methode Jaques-Dalcroze

 

SoIfège

Elfriede Feudel schreibt folgendes:

”Im Jahre 1910 sah ich an einem Abend in der Königlichen Hochschule für Musik eine Vorführung der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Dalcroze aus Genf und erhielt die Möglichkeit, sie bald darauf näher kennenzulernen. Von dieser Zeit an lernte ich die Musik von einer bisher unbekannten Seite unter ganz neuen Gesichtspunkten erfassen und begreifen. Ein zweites, das eigentliche Studium der Musik begann für mich, hinter dem alles, was ich bisher getrieben hatte, mehr und mehr zurücktrat.”

(E. Feudel, Ein Leben für die Rhythmik, H.G. Feudel (Hrsg.), S. 25)

 

Die Begeisterung, die die Vorführung hervorrief, hörte sich beispielsweise so an:

”(...) das müssen Sie einfach sehen, da ist ein Genfer Musiker, der mit seinen Schülern und Schülerinnen einfach unglaubliche Dinge zeigt: Improvisation, Gehörbildung und Bewegung!” (E. Feudel, a.a.O., zitiert einen Ausspruch von Fr. Christians)

 

Heute muss man sich fragen, weshalb die Gehörbildung als Erziehung zur Musik in der geschichtlichen Entwicklung einfach unter den Tisch fiel . War es die Kestenberg-Reform 1925, die der Rhythmik als Erziehung durch Bewegung, jedoch ohne das Solfège zu nennen, innerhalb der Musiklehrerausbildung einen festen Platz in den staatlichen Konservatorien und Hochschulen zuwies? War es im deutschsprachigen Raum die Abneigung gegen das in den romanischen Ländern gebräuchliche Tonvokabular und das ‘absolute do‘? Jedenfalls besteht diese Situation an deutschsprachigen Hochschulen schon seit langer Zeit. Die StudentInnen, und das sind auch RhythmikerInnen, erhalten ‘irgendeinen‘ Gehörbildungsunterricht von qualifizierten Fachkräften erteilt. Aber damit wurde auch die Weitergabe Dalcrozes wertvollen Systems an Hochschulen und Musikschulen verbaut. Größtes Manko des derzeitigen Unterrichts aus meiner Sicht ist die fehlende Praxis in der Improvisation und in der Anwendung auf die Harmonie am Klavier. Trotz interessanter Versuche auf diesen Gebieten bleibt die Überintellektualisierung bestehen.

Im Solfège nach Emile Jaques-Dalcroze geht es darum, die vielen Arten des Hörens und Horchens über das Singen zu erfahren. Das Erleben am eigenen Leibe und das Singen und Dirigieren/ Klatschen in der Gruppe führt auf anschauliche Weise zum Ton- und Hörbewusstsein und zum Musikverständnis. Geatmete Phrasierung und Anschaulichkeit wenden sich gegen eine pure ‘Mathematik‘ der Musik. Wie in der Rhythmik ist auch hier der Rhythmus das Urelement. Man wird erahnen können, wie die drei ‘Säulen‘ der Methode ineinandergreifen und eine im Rhythmikunterricht ausgebildete Fertig- oder Fähigkeit im SoIfège- bzw. Klavierimprovisationsunterricht angewendet werden kann.

Das Solfège-rythmique lässt sich auch auf andere Methoden, wie Tonika-do oder KodáIy anwenden. Drei Aspekte bilden die Basis, die zum Teil über übliche Übungskategorien anderer Methoden hinausgehen:

1.  METRIK UND RHYTHMUS

2.  AUTOMATISIERUNG VON TONFOLGEN IN VERBINDUNG MIT TONNAMEN, KLATSCH- UND GEHÜBUNGEN

3.  VOKALIMPROVISATION

 

1.  Im rhythmischen Bereich werden Fertigkeiten wie Primavista, inneres Hören, schnell reagieren, Lesen von verschiedenen Schlüsseln, trainiert.

2. Die Entlastung der Hirntätigkeit wird durch die Automatisierung von Singbewegungen erreicht. Tonleiterausschnitte automatisieren Tonfolgen und deren Tonnamen. Beim Kind wird so das absolute Gehör erhalten, beim Erwachsenen gebildet. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ein großer Teil der Übungen auch im Stufensingen besteht und so das abstrakte Denken und Hören fördert.

Intervalle und Akkorde leiten sich aus Tonleiterausschnitten unter Weglassung der Zwischenstufen ab. Die Pause ist eine aktive Zeit des Hörens und der inneren Tonvorstellung: Vorhören, Nachhören, Mithören einer anderen oder einer vorgestellten Stimme.

3.  Die Improvisation stellt wiederum den Schlüssel dar zum Ansprechen des ganzen Menschen in seinem Eigensinn, seiner Initiative, seinem Ausdruck und seiner Musikalität.

Im Gehörbildungsunterricht zu improvisieren, und zwar nach Vorgabe, erschien den Studentinnen der Performing Arts Studios Vienna, der ersten privaten Musicalausbildung in Österreich, an der ich seit September 96 unterrichte, zuerst nicht selbstverständlich. (Wie erwähnt haben die RhythmikstudentInnen keinen Solfègeunterricht.) Wie in der Rhythmik sind Musicalstudenten Allrounder. Sie werden in Tanz, Schauspiel und Gesang ausgebildet, haben im musikalischen Bereich außer Solfège/ Musiktheorie Chor und einige Ensembles wie Jazzquartett. Der Hauptunterschied liegt meines Erachtens darin, dass die Studenten hier keinerlei pädagogische Zielsetzung haben, da sie auf die Bühne wollen. Jedes Quartal macht die Schule öffentliche Shows mit Arrangements ihres Leiters Michael Schnack und Choreographien verschiedener Tanzlehrer. Die Hauptrnotivation für das Solfège: Die StudentInnen wollen Vomblattlesen, rhythmisch sicher werden, Musik verstehen lernen. Daneben braucht der Musicaldarsteller die professionelle Flexibilität, sich auf jeden Dirigenten und Choreographen einzustellen. Es sind ja die vier Hauptmerkmale des Musikers auszubilden (fînesse d‘oreille, sensibilité, rythmique, extérioriser sensations émotives). Ich hoffe, es gelingt, dass auch sie ”die Musik von eine(r) bisher unbekannten Seite unter ganz neuen Gesichtspunkten erfassen und begreifen” (s.O., E. Feudel) lernen.

 

 

Klavierimprovisation

 

Die Arbeit als Klavierimprovisationslehrer in Wien stellt methodisch-didaktisch neue Anforderungen dar, denn die StudentInnen haben extrem verschiedene Niveaus. Es kann vorkommen, dass eine Konzertpianistin in einer Kleingruppe mit einer Anfängerin ist (z.B. 2 Jahre Klavierunterricht vor Studienbeginn), dass jemand, der nie in seinem Leben improvisiert hat, mit jemandem zusammen ist, der kaum von Noten gespielt und eigentlich nur nach Gehör improvisiert hat und schliesslich dass jemand hauptsächlich in der Art der Popularmusik nach Harmonieschemata improvisiert hat. Ausdruckskraft, Ideenreichtum, Vorstellungskraft und Aufnahmefähigkeit sind des weiteren oft unterschiedlich.

Der Ausgangspunkt vieler Themen muss so offen sein, dass sowohl verschiedene Temperamente als auch verschiedene Niveaus etwas damit anfangen können. Als hervorragendes Mittel hat sich die Arbeit mit musikalischen Parametern, speziell die Arbeit am Rhythmus, wie z.B. Ostinati, herausgestellt. Der andere wichtige Bereich sind freie Aufgaben: je offener die Aufgabe, desto überraschender oft die Lösungen (hier ist der Aufforderungscharakter im Sinne von eigener Lösung am größten). Das ist jedoch nicht zu verwechseln mit unklaren Aufgabenstellungen, denn diese verhindern die produktive Arbeit.

In der Arbeit zu vier Händen oder an zwei Klavieren werden Fähigkeiten gebildet, sich selbst und den anderen zuzuhören und zu erspüren, wohin der gemeinsame Weg führt.

Nicht etwa der Konzertpianist oder der Musiklehrer, nein, nur der Rhythmiker hat während seines gesamten Studiums am Hauptinstrument Improvisation neben Literaturspiel. (In Leipzig besteht seit 1992 ein Studiengang für Improvisation.)

Die RhythmikerInnen könnten nicht nur selber als elementare Instrumentalpädagoglnnen arbeiten, sondern ihr Können und Wissen auch an andere Musiklehrer weitergeben.

 

 

Aussichten

 

Die Wurzeln für alle Bereiche der Rhythmik liegen heute in der Improvisation mit Musik und Bewegung: in der Improvisation der Bewegung zu einer improvisierten oder komponierten Musik, in der musikalischen Improvisation zu einer improvisierten oder festgelegten Bewegungsfolge. Im Rhythmikunterricht wird meistens improvisiert. Wir Rhythmiker haben eine reichhaltige Palette an Improvisationsmodellen und an Methoden, in unterschiedlichster Art zu improvisieren, ausgebildet Bei Vorführungen kennen wir das regelmäßig Wiederkehrende ”Das habt ihr vorbereitet!”, wenn wieder einmal vor Publikum improvisiert wurde.

 

Der ‘Baum Rhythmik‘ wächst weiter, einiges verliert sich, einiges fällt ab, wächst neu, ist in Bewegung. Und ”es ist die Bewegung, die das Bewusstsein bildet” (E. Jaques-Dalcroze, in: Die Rhythmische Gymnastik, 1906, Vorwort, S. XII).

Ulrich Mahlen schreibt in Üben & Musizieren: (2/95, S.2):

”Die Instrumentalpädagogik hätte in der Tat mancherlei Gründe, bei der Rhythmik in die Schule zu gehen und die Vorzüge der modernen Rhythmik in ihre Lehre zu integrieren, dazu gehören: eine physiologische und anatomische Fundierung der Bewegungslehre; eine weitgefächerte Praxis der Improvisation; eine Einbeziehung von Fragen der Erwachsenen – wie der Vorschulpädagogik in die hauptfachspezifische Lehre; eine selbstverständliche Aufgeschlossenheit für Neue Musik, außereuropäische Musik, U-Musik-Bereiche, die in der Instrumentalpädagogik meist zu kurz kommen; ein Arbeiten in Gruppen, das vielfältige gruppendynamische Erfahrungen ermöglicht, ohne die eine produktive Didaktik des Gruppenunterrichts schwerlich auskommt.”

 

Dieses betrifft sowohl die Genfer als auch die deutschsprachige Rhythmik. Der Rhythmikunterricht hier wie dort ist eine mehrdimensionale Angelegenheit. Die Rhythmiker können der Musikerziehung auf alle Fälle Impulse geben (ebenso wie etwa die Kunstpädagogen, die sich schon lange vom bloßen Reproduzieren verabschiedet haben).

Künstlerischer Unterricht, ob in den Bereichen Musik, Bewegung oder Rhythmik, muss über das Erlernen und Vermitteln von Methoden weit hinausgehen.

Um mit Nietzsche zu sprechen: ”Man muss noch viel Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.” Um mit Dalcroze zu sprechen, wird dieser ‘tanzende Stern‘ durch ”l‘émancipation des essors spontanés et inconscients” (siehe Zitat auf erster Seite) geboren. Danach werden sie von uns, den Rhythmiklehrerlnnen, geordnet.

 
 

Zusammenfassung
 

Die Rhythmik erscheint heute in so vielen Formen und es herrschen so viele verschiedene Meinungen, dass die Verständigung untereinander zur Aufgabe wird, auch angesichts der Konkurrenz von Spezialisten auf Teilgebieten.

Emile Jaques-Dalcroze begeht den Weg der Erziehung durch die Musik zur Musik. Die SchülerInnen von Feudel, Pfeffer, Scheiblauer u.a. hatten keinen direkten Zugang mehr zu den Methoden und Ideen EJDs. Sie entwickelten neue nützliche Methoden und Ansätze. Der Informationsfluss zwischen dem deutsch- und  französisch-sprachigen Raum könnte besser sein. Die Gemeinsamkeiten aller Rhythmikerlnnen liegen im Bereich der Improvisation. Hier können wichtige Impulse für andere Musik- und Instrumentallehrer erfolgen.

 

 

Ausblick

 

Damit ein vertiefter Einblick in die Arbeit des Rhythmikers Jaques-Dalcroze in anderen KuIturräumen und Grenzen möglich wird, möchte ich abschliessend einige Überlegungen anstellen:

Aus historischer Sicht ist die Rolle Genfs als ”Hüterin” des Erbes von Jaques-Dalcroze von grundlegender Bedeutung. Ebenso wichtig ist die Rolle der Rhythmikerinnen und Rhythmiker Jaques-Dalcroze, die in anderen soziokulturellen Umfeldern arbeiten und gezwungen sind, sich mit ihrer beruflichen Identität auseinanderzusetzen. Diese Konfrontation führt zu einer Infragestellung, zu einer Suche nach den Grundprinzipien, einer Öffnung gegenüber anderen Welten und anderen beruflichen Realitäten, zu einer Bereicherung und, wichtiger noch, schliesslich zu einem neuen Bewusstsein der Werte Jaques-Dalcroze.

Es ist äusserst wichtig, dass die Methode Jaques-Dalcroze sich erneuern, sich mit allen wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen Entdeckungen, die im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht worden sind, bereichern kann, um den Menschen des nächsten Jahrhunderts all das geben zu können, was sie benötigen, um sich all ihrer Möglichkeiten bewusst zu werden. Nur so kann das Ideal des Begründers lebendig erhalten werden.

 

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