Normale Schrift = Silvia Del Bianco, Kursive Schrift = Paul Hille
(leicht gekürzte Fassung, teilweise Schweizer
Orthographie)
Rhythmik heute
Welche Möglichkeiten bestehen für Rhythmikerinnen und Rhythmiker
aus dem deutschsprachigen Raum auf dem Arbeitsmarkt?
Vorbereitende Schulen:
- Kinderhorte, Kindergärten
Schulen:
- Primarschulen, Sekundarschulen, Weiterbildungsklassen
Musikschulen:
- Eltern-Kind-Rhythmik, Rhythmik, Rhythmik-Solfège (Gehörbildung),
Musikeinführungs-kurs
Heilpädagogik
- Weiterbildungsklassen, Heime, therapeutische Organisationen, Spitäler
Fachhochschulen:
- Lehrerausbildung, Kindergartenseminare, Berufsschulen, Konservatorien,
heilpädagogi-sche Institutionen, Sozialarbeiterschulen, Gymnastik-
und Tanzschulen, Jazzschulen
Freiberufliche Tätigkeiten:
- Private Kurse für Kinder und Erwachsene, kulturelle Aktivitäten
- Klavierbegleitung in Tanzschulen
- Arbeit mit alten Menschen
- Arbeit an Volkshochschulen und in diversen Institutionen
Die Aufgabe der Rhythmikerinnen und Rhythmiker im deutschsprachigen Raum
ist natürlich nicht einfach. Die Rhythmik hat hier nicht denselben
Stellenwert und nicht dieselbe Tradition wie in den Kantonen Genf und
Waadt.
In den meisten Fällen muss die Rhythmikerin Pionierarbeit leisten.
Sie muss die Rhythmik bekannt machen, deren Bedeutung erklären, ihre
Prinzipien erläutern und kämpfen, um ihr in den verschiedenen
Institutionen einen Platz zu schaffen. Ihr fachliches Können genügt
nicht Sie muss äusserst initiativ, motiviert, flexibel und engagiert
sein.
Da die Rhythmik in den Kindergärten und Schulen kein obligatorisches
Fach ist, muss der Rhythmiker dafür sorgen, dass er aus seiner Isolierung
herauskommt, dass seine Arbeit anerkannt wird.
Seine Aufgabe ist nicht einfach. Oft muss er sein Körpertraining
dafür einsetzen, um mit sei-nem Unterrichtsmaterial auf dem Rücken
von einem Arbeitsort zum anderen zu laufen. Kommt dazu, dass wir in ein
und demselben Kulturraum auf Rhythmikkolleginnen und –kollegen treffen,
für die ”Rhythmik” vielleicht ganz. unterschiedliche Bedeutungen
hat.
In dieser vielfältigen Wirklichkeit muss der Rhythmiker Jaques-Dalcroze
seine innere Kraft zu Hilfe nehmen, um sich dieser komplexen Situation
anzupassen, seine Identität zu wahren und seine Ziele zu erreichen.
Die Identität des Jaques-Dalcroze - Rhythmikers
Als Rhythmiker und Fachperson einer Erziehungsmethode fühlen wir
uns verantwortlich und brauchen innere Kohärenz und eine Systematisierung
der Prinzipien, die unseren Unterricht bestimmen.
Wir verspüren dieses Bedürfnis um so stärker, wenn wir
Fragen beantworten müssen, die von aussen an uns herangetragen werden,
von einer Umgebung, in der die Rhythmik Jaques-Dalcroze fremd ist.
Welches sind die Hauptaspekte, welche die Rhythmikerin Jaques-Dalcroze
als Grundlage ihrer Identität bewahren muss?
An erster Stelle steht die Auffassung der Rhythmik als Musik- und Körpererziehung
zur Entfaltung des Menschen in seiner persönlichen und sozialen
Entwicklung.
Zweitens ist die Rhythmik gemäss ihrer ursprünglichen Vorstellung
eine Erziehung durch die Musik und für die Musik. Das ”Durch” und
das ”Für” haben dabei denselben Stellenwert. Die Musik ist bei dieser
Erziehungsmethode ein Mittel, sie ist aber vor allem, das Ziel dieser
Erziehung.
Drittens hat die Rhythmikerin Jaques-Dalcroze kein Handbuch, das sie
als Modell ihres Unterrichts beiziehen könnte. Sie entwirft und organisiert
ihre Kurse selbst und adaptiert und kreiert Übungen nach ihren Bedürfnissen.
Viertens muss der Rhythmiker später, wenn er sich selbst überlassen
ist, aus seinen Mitteln diejenigen auswählen, die ihm für die
gegebene Situation am geeignetsten erscheinen. Dank seiner Erfahrung,
seinem Können und der Vielfalt seiner Praxis ist er in der Lage,
gewisse Entscheide zu fällen.
Fünftens spielt die Improvisation eine präzis umrissene und
äusserst wichtige Rolle in der Unterrichtsmethode nach Jaques-Dalcroze.
Einerseits ist die Improvisation ein pädagogisches Prinzip, andrerseits
gilt die Improvisation am Klavier als grundlegendes Mittel des Unterrichts
nach Jaques-Dalcroze. Der Improvisator Jaques-Dalcroze muss die Qualität
des Ausdrucks, der Phantasie, der Präzision bei sich selbst finden,
damit sein ”Klavierwerk” Hörerlebnis und Körperbewegung (und
umgekehrt) in Einklang bringen kann.
Sechstens besteht die Aufgabe der Rhythmik darin, zwischen Musik, Körper,
Raum, Gruppe und Material Verbindungen zu schaffen.
Als Musikerzieherin integriert und fördert die Rhythmikerin durch
ihre Vorgehensweise die individuellen körperlichen Äusserungen
des einzelnen mit dem Ziel, ihn in die Welt der Musik einzuführen.
Dies ist zweifellos ihre wichtigste Aufgabe und gewissermassen ihre ”Spezialität”.
Emile Jaques-Dalcroze (in der Folge EJD) ging Ende des letzten Jahrhunderts
zuerst von der Musik und ihren erzieherischen Möglichkeiten aus,
um später zu erkennen, dass die Durchdringung von Musik und Bewegung
in der Schule und auf der Bühne weitere noch nicht ausgeschöpfte
Möglichkeiten besitzt, zu einem ‘Laboratoire d‘une humanité
nouvelle‘ zu gelangen.
Der Ausspruch Dalcrozes der Erziehung durch die Musik und für
die Musik (”que la Rythmique soit considérée comme une mode
d‘éducation par la musique et pour la musique, provoquant d‘abord
l‘émancipation des essors spontanés et inconscients, puis
leur ordination rationelle.” La grammaire de la Rythmique, in: Le rythme,
Nr. 17, 6/26, S. 3) bildet die Wurzeln für den ‘Baum Rhythmik‘ in
seiner heutigen Gestalt Dabei bildet die Methode Jaques-Dalcroze nur noch
einen Ast, einen appollinisch-wohlgeformten zwar. Man kann im Rhythmikunterricht
die Waagschale zugunsten der Erziehung durch die Musik oder die andere
Seite betonen: die bewusste Musikerziehung. Beide Seiten sind für
die Analyse zu trennen. In Wirklichkeit sind sie miteinander verbunden.
EJD‘s Aussprüche sind so auch einmal eher unter dem allgemeinerzieherischen
Aspekt, ein andermal eher unter dem musikerzieherischen zu verstehen.
Hier beschreibt EJD z.B. die Auswirkungen der rhythmisch metrischen Übungen:
”Eins der ersten Ergebnisse dieser Übungen, die einerseits die
Zahl der automatischen Vorgänge vermehren und ein vollendetes Muskelspiel
gewährleisten, andererseits raschere und sichere Verbindungen zwischen
den beiden Polen unseres Wesens herstellen und den ungehemmten Ablauf
unserer natürlichen Rhythmen fördern sollten - eins der ersten
Ergebnisse dieser Übungen wird sein, dass das Kind [der Mensch, der
Verf] sich selber kennen, sich selber beherrschen und Macht über
seine eigene Persönlichkeit gewinnen lernt. Wohl vertraut mit dem
wunderbaren Mechanismus dieses herrlich gebauten Leibes, der uns gegeben
ward, damit wir ihn zum würdigen Gefäß unserer Seele bilden;
(...) Desgleichen bildet sich seine Einbildungskraft.”
(EJD, in: Rhythmus, Musik und Erziehung, Genf 1977, S. 74, in der
Folge RME)
Die Schüler oder Studenten erleben musikalische Rhythmen und andere
Parameter am eigenen Leibe, stellen Musik in Bewegung dar und regeln ihre
Bewegungen nach der gehörten bzw. gesungenen Musik in der Zeit. Wir
wissen, wie schwer es z.B. ist, im Offbeat zu einer Musik zu klatschen,
wie man jeden kleinen Fehler hört oder koordinationsmäßig
immer wieder an körperliche Grenzen stößt. Diese körperliche
Erziehung zum Rhythmus sah EJD durchaus auch als Erziehung durch Musik
an, welche die gesamte Person verändert.
”Zahlreiche Übungen unserer rhythmischen Methode zielen darauf ab,
das Konzentrationsvermögen zu steigern. (...) Des weiteren wollen
diese Übungen zahlreiche motorische Gewohnheiten und neue Reflexe
erzeugen, den Geist dadurch beruhigen, den Willen kräftigen und im
ganzen Organismus Ordnung und Klarheit stiften.”
(EJD, RME, a.a.O.)
Die Erziehung zur Musik bildet die andere Seite der Waagschale. EJD
fragt:
“Kann man musikalisch gutbegabten Kindern beibringen:
1. Die innere und äußere Musik zu hören, wahrzunehmen,
zu empfinden?
2. Vom Blatte zu lesen?
3. Zu phrasieren und zu nüancieren, ohne knechtisch einem gegebenen
Muster zu folgen?
4. Zu transponieren?
5. Zu improvisieren? (...)
6. Verständnis und Gefühl, das heißt Liebe für
die Musik?” (RME, S.46)
Wobei der Begriff ‘musikalisch‘ interessant ist.
In der ‘Didaktik der Klavierimprovisation‘ an der Musikhochschule
Wien antwortete eine Studentin auf die Frage, wie eine ideale Klavierlehrerin
sein sollte mit einem Katalog von Begriffen, wie einfühlsam, phantasievoll,
empfindsam, sinnlich und musikalisch. Auf die erneute Frage, was denn
‘musikalisch‘ für sie bedeute, kamen wir in der Gruppe zu einem Katalog
von Begriffen, die sich mit den vorhergenannten deckten (bis auf ‘freundlich‘).
Marie-Laure Bachmann beschreibt die vier Merkmale, die Emile Jaques-Dalcroze
für den Musiker für wichtig hält:
”1. la finesse de l‘oreille
2. la sensibilité nerveuse
3. Je sentîrnent rythmique
4. la faculté d‘extérioriser spontanément
les sensations émotives.”
(ML Bachmann, Les fondements théoriques de la rythmique Jaques-Dalcroze
á l‘appui de l‘identité du rythmicien, Genf; 1985, S. 6)
Uns ist klar, dass neben diesen Fähigkeiten auch spezielle Fertigkeiten
für den Musiker vonnöten sind.
Das Erbe von Jaques-Dalcroze
Wir kommen kurz auf das Erbe von Emile Jaques-Dalcroze zurück, um
verschiedene grundlegende Aspekte unseres heutigen Themas besser erfassen
zu können.
Durch seine facettenreiche Persönlichkeit hat Jaques-Dalcroze uns
ein Erbe als Theatermann, Schriftsteller, Denker, Komponist, Pädagoge
und Forscher hinterlassen.
Von all diesen Facetten wollen wir zwei näher betrachten:
1. Das Erbe von Jaques-Dalcroze als ”Denker”, seine philosophischen Ideen,
seine Auffassung des Menschen, seine Vorstellung vom Bedürfnis der
Harmonisierung aller seiner Fähigkeiten. Dieser Zweig seines Erbes
führt zu den Tendenzen der modernen Pädagogik, zur allgemeinen
und künstlerischen Erziehung im weitesten Sinn.
2. Das Erbe von Jaques-Dalcroze als ”Pädagoge” und ”Forscher”, der
Teil, der praxisorientiert ist, der Experimente macht, in Frage stellt,
nachdenkt, Hypothesen aufstellt, Schlussfolgerungen zieht. Dieser zweite
Zweig seines Erbes führt zu seiner Konzeption der Rhythmik als musikalische
und körperliche Erziehungsmethode. Er erlaubte ihm, sein pädagogisches
System aufzubauen.
Versetzen wir uns in die Lage all dieser Studentinnen und Studenten,
die ihn entweder in Hellerau, Genf oder anlässlich seiner Demonstrationstourneen
in verschiedenen europäischen Städten getroffen haben. Die Dauer
ihrer Studienaufenthalte oder ihrer Ausbildung war je nach Ort und Zeitpunkt
unterschiedlich. Sicher wurden alle von seinem Können geprägt,
erlebten alle eine Einführung in diese neue pädagogische Auffassung
und verspürten ein grosses persönliches Verlangen, ihren Hunger
nach neuen, lebendigen, “wahren” Ideen zu stillen.
Bei all diesen Generationen von Studentinnen und Studenten gab es ”Passanten”
und ”Bleibende”. Die ”Passanten” waren für eine begrenzte Zeit gekommen
und zogen weiter, um sich weit vom Meister entfernt niederzulassen. Bei
den ”Bleibenden” gab es solche, die nach ihrer Ausbildung im Umfeld von
Jaques-Dalcroze weiterarbeiteten.
Die berufliche Wirklichkeit war für beide äusserst unterschiedlich.
Jene, die blieben, wurden vom Meister gehätschelt, unterstützt,
beeinflusst, während die ”Passanten” sich allein einer anderen Realität
stellen mussten und sich nur auf ihre Erfahrungen und Erinnerungen und
auf die Schriften von Jaques-Dalcroze stützen konnten. Sie wurden
mit sich selbst konfrontiert und mussten ihre eigenen Meister werden.
Wir können sagen, dass die ”Bleibenden” weiterhin Studenten des
Meisters waren, während die ”Passanten” gezwungenermassen zu Lehrern
wurden.
Dieser geographischen Realität verdanken wir sicher die spätere
Entwicklung der Rhythmik und die Verteilung so markanter Rollen in ihrer
Geschichte, in der Genf mit dem Zentrum des Instituts Jaques-Dalcroze
die Rolle der Verwalterin des direkten Erbes, des “Know-hows” spielt.
Andere Rhythmikschulen der Schweiz und des Auslandes (in Deutschland und
Österreich) haben das Genfer Modell nicht übernommen, sondern
haben die Initiative ergriffen, um in diesem philosophischen und pädagogischen
Konzept neue Inhalte, Prinzipien und Perspektiven zu entwickeln.
Kurzer Abriss der Geschichte der Rhythmik in der Schweiz
Emile Jaques-Dalcroze war sein ganzes Leben lang durch seine persönliche
Arbeit, seine Lektionen, seine Schriften, seine Reisen, seine Vorträge
und seine Demonstrationen darauf bedacht, sein pädagogisches, künstlerisches,
philosophisches und menschliches Ideal zu entfalten.
Mit der Gründung des Institut Jaques-Dalcroze in Genf nach seiner
Rückkehr von Hellerau im Jahre 1915 beginnt für die Rhythmik
in der Schweiz ein grosser Augenblick.
Viele sind ihm begegnet. Folgende Personen haben auf die eine oder andere
Weise die Richtung zur Entwicklung der Rhythmik in der Schweiz beeinflusst:
Paul Boepple in Basel von 1904 an; Gustav Güldenstein in Basel von
1921 bis 1953 und in Luzern von 1942 bis 1962; Mimi Scheiblauer in Zürich
ab 1912. Vor allem mit Paul Boepple und Mimi Scheiblauer nimmt der Einzug
der Rhythmik in die Schule, in die allgemeine Pädagogik und in die
Heilpädagogik ihren Anfang.
In diesem neuen Kontext werden gewisse Aspekte der Rhythmik nach und
nach anders betrachtet als von ihrem Schöpfer vorgesehen, und eine
grosse Umwandlung des ursprünglichen Konzepts der Rhythmik beginnt.
Mimi Scheiblauer definiert die Rhythmik als ”Erziehung, die von der Bewegung
ausgeht und von der Musik unterstützt wird”. Wir stellen fest, dass
sie nicht nur der Bewegung mehr Gewicht verleiht, sondern, dass die Musik
der Bewegung untergeordnet wird. Die Musik ist bei dieser Erziehung nicht
länger Ziel, sondern bloss noch Zweck. Hier haben wir es zweifellos
mit einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte der Rhythmik in der
Schweiz zu tun. Diese neue Tatsache kann als Abwandlung des ursprünglichen
Konzepts der Rhythmik verstanden werden. Sie kann auch als Spaltung zwischen
zwei verschiedenen Umfeldern (Westschweiz — Deutschschweiz) aufgefasst
werden. Es gibt sicher zahlreiche Faktoren, die diese Richtungsänderung
bewirkt haben. Diese unterschiedlichen Entwicklungen haben sich im Laufe
der Zeit und der Generationen noch verstärkt, und heute finden wir
sie immer noch teilweise auf gewissen Gebieten der Rhythmikausbildung
in der Schweiz.
Nach Genf begann 1926 am Konservatorium von Zürich unter der Leitung
von Mimi Scheiblauer die zweite Schule mit der Berufsbildung.
Auch das Konservatorium Basel bot unter der Leitung von Gustav Güldenstein
bis 1953 eine Ausbildung an.
In Biel wurde die Ausbildung erstmals 1962 angeboten, dank der Initiative
von Leni Reinhard.
1974 begann am Konservatorium von Luzern eine neue Ausbildung (zu Beginn
in Teilzeit) unter der Leitung von Hans Zihlmann.
Heute hat jeder Ausbildungsort seine Ausrichtung und seine Besonderheiten.
Nach einer äusserst langen Zeit ohne starke Beziehungen zwischen
diesen Institutionen ist in den letzten Jahren eine Bewegung des Austausches
und der Kontakte entstanden. Wir freuen uns sehr über diese Entwicklung
und arbeiten an einer Verstärkung dieser Bewegung. Wenn wir die Rhythmik
erhalten und weiterentwickeln wollen, müssen wir mit Enthusiasmus
und Vertrauen an die Arbeit und mit der festen Überzeugung, dass
eine gewisse Veränderung der Rhythmik nicht unbedingt zu einem Verlust
unserer eigenen beruflichen Identität führen muss, sondern dass
sie zu einer Ausweitung unserer Kenntnisse führt, indem sie uns erlaubt,
neue Perspektiven zu entdecken. Vielleicht besteht darin unsere einzige
Hoffnung, eines Tages die Schaffung eines ”Schweizerischen Verbandes der
Rhythmiklehrerinnen und –lehrer” zu erleben.
Einige Anmerkungen zur historischen Situation im deutschsprachigen Raum
E. Witoszynskij schreibt zu EJD (“Plädoyer für das Fach
Rhythmik”, in: Üben & Musizieren, 2195, S.
3 f.):
”Im Geiste reformpädagogischer Ideen strebte er mit seiner Methode
die Einheit von Körper, Geist und Seele an. Dalcrozes Schüler
haben seine Arbeit weiterentwickelt, wobei bereits in der ersten Generation
künftige Entwicklungslinien deutlich wurden. (...) Ernst Ferand,
einer seiner Nachfolger als Lehrer an der Bildungsanstalt In Hellerau
bei Dresden, versuchte dieser kritischen Betrachtung [von Wigman, der
Verf.] entgegenzutreten, ‘indem wir an zwei Punkten zugleich ansetzen:
an dem musikalischen Empfinden und dem Körpergefühl‘.”
Die erste Generation nach Dalcroze bildete eigene Konzepte und erschloss
sich neue Aufgabengebiete. In der darauffolgenden Generation haben wir
Scheiblauer- und Feudel-Schülerinnen in Deutschland oder anschließend
Schulen, wie etwa die Detmolder-, Freiburger,- Hannoveraner,- Münchener-,
Stuttgarter-, Trossinger-, Wiener-Schule und viele mehr.
Heutige RhythmikstudentInnen wissen leider nicht viel von den Wurzeln
in der Methode Jaques-Dalcroze und verstehen auch nicht den Zusammenhang,
wenn sie vielleicht einmal in ihrem Leben Kontakt mit Genf haben.
Die Rhythmikausbilder forschten in ihrem Unterricht und entwickelten
sich weiter. In Verbindung mit verschiedenen Zielgruppen, wie man es heute
wohl nennen würde, entstanden, um einige zu nennen, z.B Gerda Alexanders
Eutonie, Rosalia Chladeks ‘musikalisches‘ Bewegungssystem, G. Spiess-Jaenickes
Ansatz der Darstellung als integrativem Anteil in der Rhythmikausbildung,
Konrads Entwurf einer Theorie für Erwachsenenrhythmik usw. Dabei
entstanden Etiketten, die von fachfremden Personen oder unwissenden Schülern
benutzt und vielleicht sogar missbraucht wurden. Heute erleben Rhythmiker
bisweilen, dass in einer bestimmten Institution beispielsweise “nur Scheiblauer-Rhythmik”
unterrichtet werden soll (so von einer Kollegin in Wien vor einigen Monaten
gehört, es betrifft eine Sozialakademie). Oder RhythmikerInnen müssen
an der Musikschule musikalische Früherziehung und Grundausbildung
unterrichten, ev. sogar mit fixem Lehrplan, denn in den siebziger Jahren,
als der Baum Rhythmik in Deutschland enorm auswuchs, kümmerte sich
kaum jemand um die Pflege der musikpädagogischen Wurzeln, bzw. man
versäumte, den elementaren Musikerziehern die Notwendigkeit einer
ganzheitlichen Erziehung durch Musik zur Musik theoretisch zu erklären.
Heute haben diese schon aufgeholt und sprechen ihrerseits von ganzheitlicher
Erziehung, haben sich an den im deutschsprachigen Raum in der Rhythmik
entwickelten Methoden weitergebildet, z.T selber weitergeforscht, und
bieten z.B. auch Kurse für Erwachsene an.
Ungeachtet dieser nicht ganz leichten Konkurrenzsituation auf dem
Arbeitsmarkt haben RhythmikerInnen und deren AusbilderInnen untereinander
bisweilen Schwierigkeiten mit Meinungs- einungsvielfalt und Kommunikation.
So scheint die Situation des einzigen deutschen Fachorgans (Rhythmik in
der Erziehung) seit dem Ausscheiden des langjährigen Chefredakteurs
Karl Lorenz eher kritisch. Kein Wunder, wenn gleich mehrere Kollegen ein
unstetes Niveau der abgedruckten Artikel kritisieren und aus diesem Grunde
dort nicht veröffentlichen.
Eine Barriere zwischen Dalcroze-Rhythmikern und anderen bildet in
diesem Zusammenhang die Sprache. So finden wir im ansonsten so umfassenden
Buch Schaefers keinen Hinweis auf Publikationen von Bachmann, Vanderspar,
Findley und weiteren. Leider sieht es auf der Seite der Dalcroze-Publikationen
umgekehrt vergleichbar aus.
Parallelen zwischen der Ausbildung in Biel und Genf
Das Rhythmikseminar in Biel ist 1962 gegründet worden. Am Anfang
war der Unterricht ausschliesslich auf die Methode von Emile Jaques-Dalcroze
ausgerichtet. Der erste Teil der Ausbildung erfolgte in Biel und der zweite
am Institut Jaques-Dalcroze in Genf. Seit 1980 kann die ganze Ausbildung
in Biel absolviert werden. 1988 wurde unser Seminar autonom.
In unserem Lehrplan haben wir drei Rhythmikrichtungen:
1. Rhythmik musikzentriert (E. Jaques-Dalcroze)
2. Rhythmik prozessorientiert (M. Scheiblauer)
3. Rhythmik perkussionsorientiert.
Als ich 1987 nach Biel kam, war ich zu Beginn der Auffassung, dass verschiedene
Rhythmikrichtungen in derselben Ausbildung die Studentinnen und Studenten
verwirren könnten. Ich habe die Situation beobachtet und mit der
Zeit festgestellt, dass sie bereichernd war und angesichts der Entwicklung
des Seminars beibehalten werden sollte – einer Entwicklung, bei der die
späteren beruflichen Bedürfnisse unserer Studierenden berücksichtigt
wurden.
Beim Vergleich der Ausbildung in Biel und Genf finden wir Ähnliches
und Unterschiedliches. Gleich sind bei beiden Ausbildungen die Fächer,
die auf den Prinzipien von Jaques-Dalcroze basieren und die in Biel von
Rhythmikern Jaques-Dalcroze erteilt werden, die die Kriterien des Gründers
respektieren: musikzentrierte Rhythmik, Improvisation für den Unterricht,
ein Teil der Globalkurse, ein Teil der Methodik und Didaktik, das Rhythmikpraktikum
im Kindergarten, das Solfègepraktikum in den Kinderklassen der
Musikschule.
Unterschiedlich sind die Fächer, die auf anderen Prinzipien basieren,
die in Biel von qualifizierten Lehrkräften erteilt werden nach Kompetenzkriterien
wie: prozessorientierte Rhythmik, perkussionsorientierte Rhythmik, Gehörbildung,
therapeutische Rhythmik, Praktikum in therapeutischer Rhythmik.
Allgemein kann gesagt werden, dass Genf von einem homogenen Konzept der
Rhythmik im ganzen Lehrkörper profitiert Aus praktischer Sicht besteht
für die Rhythmiklehrerinnen und -lehrer während der Ausbildung
die Möglichkeit, Fächer wie Gehörbildung, Harmonielehre,
Stimmbildung, Chor, Bewegungsschulung und Eutonie zu unterrichten. Dies
stärkt die Einheit der Institution zusätzlich.
Biel profitiert von einem heterogenen Rhythmikkonzept, und sein Lehrkörper
ist an verschiedenen Orten ausgebildet worden. Aus praktischer Sicht
besteht weniger die Möglichkeit, verschiedene Fächer zu unterrichten.
So beruht innerhalb der Ausbildung zum Beispiel die Gehörbildung
auf der Methode Kodály, und die Harmonielehre wird traditionsgemäss
von einem Lehrer erteilt, der in derselben Gruppe Studentinnen und Studenten
vom Rhythmikseminar und vom Konservatorium unterrichtet. Wir verfügen
nicht über eine grosse Zahl von Jaques-Dalcroze-Lehrkräften
mit zusätzlicher Ausbildung, die ihnen erlauben würde, kompetent
andere Fächer des Lehrplans zu unterrichten. Angesichts unseres
heterogenen
Konzepts der Rhythmik innerhalb unserer Schule und in der Absicht, Einheitlichkeit
anzustreben, wird ein Fach von demselben Lehrer während der ganzen
vier Ausbildungsjahre erteilt. So unterrichte ich beispielsweise die Improvisation
vom ersten bis zum vierten Jahr.
Kurzer Vergleich der Ausbildungsgänge im deutschsprachigen Raum
mit Genf
Die Studiensituation ist an deutschsprachigen Hochschulen, ähnlich
derjenigen in Biel, in der Regel so, dass Studentinnen in zentralen künstlerischen
Fächern von RhythmiklehrerInnen unterrichtet werden.
Rhythrnikausbilder arbeiten in kleinen Teams zusammen, denn nicht
jeder Rhythmiker kann in der Realität ”zugleich Physiologe, Seelenkenner
und Künstler sein” (EJD, RME S. 75). Für die Bereiche Sonderpädagogik,
Klavierimprovisation, Choreographien gibt es neben einem allgemeinen Profil
auch viele weitere spezielle Fertig- und Fähigkeiten, die vonnöten
sind.
Der größte strukturelle und inhaltliche Unterschied zur
Genfer Rhythmik besteht wohl in der Zusammenfassung der Jahrgänge
in Gruppen und nicht nach Leistungskriterien in den drei Hauptfächern
rythmique, improvisation au piano und solfège. Die ‘rein musikalischen
Fächer‘ werden in der Regel an Spezialisten abgegeben: Gehörbildung,
Geschichte der Musik, Formenlehre, Tonsatz etc. Was im Bereich des Hauptfaches
Rhythmik abgestimmt erscheint, trifft nicht auf die Nebenfächer zu.
Das liegt auch daran, dass Rhythmiker an einer Musikhochschule wie andere
Musikstudenten an bestimmte Ausbildungsinhalte gebunden sind. Ein großer
Vorteil besteht aber gerade in den Kontakten mit anderen Musikern und
dem Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.
Die Zeit ist reif, dass wir alle voneinander lernen könnten.
Im Kollegium in Wien, wo Vertreter verschiedenster Bereiche innerhalb
der Rhythmik, wie etwa konzentrativer Körperarbeit oder Sonderpädagogik
zusammenarbeiten, geht die Tendenz dahin, sich schwerpunktmäßig
auf die jeweiligen Anwendungsbereiche der rhythmisch-musikalischen Erziehung
zu konzentrieren. Dabei ist jeder Fachvertreter für seinen Arbeitsbereich
gefragt. Wir haben in unseren Studienplan die Möglichkeit zu einer
leichten Spezialisierung aufgenommen. So können ab dem vierten Semester
spezielle Angebote in Schwerpunktthemen gewählt werden, beispielsweise
in den Bereichen Sonderpädagogik, Klavierimprovisation und Bewegungsbegleitung
(am Klavier und am Schlagwerk), zweites Instrument, Popularmusik etc.
Dies wird hoffentlich dazu dienen, Rhythmiker leichter in verschiedene
Arbeitsbereiche zu integrieren. Die Spezialisierung hat jedoch nur dann
einen Sinn, wenn Rhythmiker auf gemeinsame historische wie inhaltliche
Wurzeln zurückgreifen können und sich untereinander zumindest
verstehen, wenn sie auch an verschiedenen Arbeitsplätzen unterschiedliche
Arbeit leisten.
Die Integration der drei grundlegenden Fächer der Ausbildung Jaques-Dalcroze
Wie lassen sich die drei grundlegenden Fächer Rhythmik, Improvisation
und Gehörbildung der Ausbildung Jaques-Dalcroze in den deutschen
Kulturkreis eingliedern?
Wie habe ich die Rhythmik in meinen Unterricht integrieren können?
Angesichts der Jaques-Dalcroze-Tradition des Rhythmikseminars Biel bezüglich
des Inhalts des Faches fiel es mir nicht schwer, die Themen und Prinzipien
von Jaques-Dalcroze anzuwenden. Wir verfügen über weniger Stunden
der Rhythmik Jaques-Dalcroze als Genf. Es liegt somit in der
Verantwortung
der Lehrerin, die Themen auszuwählen und die Zeit, die sie jedem
widmen will, zu bestimmen.
Angesichts des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds gibt es eine
Reihe von Punkten, die ich berücksichtigen und an die ich mich anpassen
musste:
1. gewisse kulturelle Eigenschaften,
2. die Vorstellung der Beziehung Studierende -Lehrpersonen
in der deutschsprachigen Kultur,
3. die Möglichkeiten, die behandelten Themen im künftigen
Berufsleben anwenden zu können.
1. Aufgrund gewisser kultureller Eigenschaften bestehen Unterschiede
in der Gruppe bezüglich Lehrzeit, Selbständigkeit, persönlicher
Atmosphäre, in der die Studierenden lernen, und der Fähigkeit,
seine Motivation zu zeigen.
2. Die Vorstellung der Lehrer-Schüler-Beziehung hat
sich während der ganzen Schulzeit herausgebildet. Wenn ich von meiner
eigenen Kultur oder der Westschweizer Kultur ausgehe, in der ich unterrichtete,
gründet die Lehrer-Schüler-Beziehung angesichts der unterschiedlichen
Rollen meiner Meinung nach auf einer Vorstellung von hierarchiebedingtem
Respekt. Es gibt Lehrende und Lernende. Aus meiner Erfahrung besteht in
der Deutschschweiz das Hierarchieprinzip in dieser Beziehung nicht. Es
gibt zwei Seiten, denen dasselbe Gewicht und dieselbe Wichtigkeit zukommen.
3. Die Möglichkeiten der Anwendung der behandelten Themen
in der künftigen beruflichen Tätigkeit. Da in den Deutschschweizer
Kantonen Rhythmik kein obligatorisches Schulfach ist, muss die Deutschschweizer
Rhythmikerin sich selbst einen Platz schaffen, Initiative entwickeln und
äusserst anpassungsfähig sein, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen
zu können.
Aus Sicht der konkreten Unterrichtslektion haben mich die durch das kulturelle
Umfeld bedingten Unterschiede veranlasst:
· weniger Übungen pro Lektion
einzuplanen,
· jedem Thema mehr Zeit zu widmen,
· mehr auf die Gruppe zu hören
(keine Übungen gegen den Willen der Studierenden),
· die Themen mehr über die
Sinne anzugehen,
· mehr Zeit zur Verfügung zu
stellen, um auf eigene Weise zu experimentieren und zu verinnerlichen,
· ”Verdauungszeit” der Studierenden
zu respektieren,
· mehr Autonomie zu gewähren
(Lehrerunabhängigkeit),
· die Gruppe nicht mehr zu ”animieren”
oder ”vorwärtszuziehen”, sondern gewisse Themen und Übungen,
die ich für ihre Ausbildung als unerlässlich betrachte, selbst
entdecken und bearbeiten zu lassen,
· die Studierenden für ihre
Arbeit, ihr Engagement und ihre Motivation Verantwortung übernehmen
zu lassen.
Was die Improvisation auf dem Klavier und ihre Eingliederung in das Rhythmikseminar
von Biel anbelangt, bestehen wahrscheinlich grössere Unterschiede
als bei der Integration der Rhythmik. Diese Unterschiede haben verschiedene
Gründe:
1. In Biel wird ein weniger hohes Niveau des Klavierspiels
zu Beginn des Studiums vorausgesetzt als am Institut Jaques-Dalcroze,
was das Lehrprogramm beeinflusst.
2. Weniger Stunden in den lmprovisations-Nebenfächern
wie Gehörbildung, Harmonie- und Formenlehre, Globalkurs, alles Fächer,
die für die Unterstützung der Improvisation am Klavier wichtig
sind.
3. Die Tatsache, dass in den Praktika die Improvisation
am Klavier wie die Improvisation mit der Stimme oder den Perkussionsinstrumenten
als Mittel einer Konzeption der Rhythmik als Erziehungsmethode durch die
Musik und weniger für die Musik verwendet werden.
Die drei Säulen der Methode Jaques-Dalcroze
SoIfège
Elfriede Feudel schreibt folgendes:
”Im Jahre 1910 sah ich an einem Abend in der Königlichen Hochschule
für Musik eine Vorführung der rhythmischen Gymnastik von Jaques-Dalcroze
aus Genf und erhielt die Möglichkeit, sie bald darauf näher
kennenzulernen. Von dieser Zeit an lernte ich die Musik von einer bisher
unbekannten Seite unter ganz neuen Gesichtspunkten erfassen und begreifen.
Ein zweites, das eigentliche Studium der Musik begann für mich, hinter
dem alles, was ich bisher getrieben hatte, mehr und mehr zurücktrat.”
(E. Feudel, Ein Leben für die Rhythmik, H.G. Feudel (Hrsg.), S.
25)
Die Begeisterung, die die Vorführung hervorrief, hörte sich
beispielsweise so an:
”(...) das müssen Sie einfach sehen, da ist ein Genfer Musiker,
der mit seinen Schülern und Schülerinnen einfach unglaubliche
Dinge zeigt: Improvisation, Gehörbildung und Bewegung!” (E. Feudel,
a.a.O., zitiert einen Ausspruch von Fr. Christians)
Heute muss man sich fragen, weshalb die Gehörbildung als Erziehung
zur Musik in der geschichtlichen Entwicklung einfach unter den Tisch
fiel . War es die Kestenberg-Reform 1925, die der Rhythmik als Erziehung
durch Bewegung, jedoch ohne das Solfège zu nennen, innerhalb der
Musiklehrerausbildung einen festen Platz in den staatlichen Konservatorien
und Hochschulen zuwies? War es im deutschsprachigen Raum die Abneigung
gegen das in den romanischen Ländern gebräuchliche Tonvokabular
und das ‘absolute do‘? Jedenfalls besteht diese Situation an deutschsprachigen
Hochschulen schon seit langer Zeit. Die StudentInnen, und das sind auch
RhythmikerInnen, erhalten ‘irgendeinen‘ Gehörbildungsunterricht von
qualifizierten Fachkräften erteilt. Aber damit wurde auch die Weitergabe
Dalcrozes wertvollen Systems an Hochschulen und Musikschulen verbaut.
Größtes Manko des derzeitigen Unterrichts aus meiner Sicht
ist die fehlende Praxis in der Improvisation und in der Anwendung auf
die Harmonie am Klavier. Trotz interessanter Versuche auf diesen Gebieten
bleibt die Überintellektualisierung bestehen.
Im Solfège nach Emile Jaques-Dalcroze geht es darum, die vielen
Arten des Hörens und Horchens über das Singen zu erfahren. Das
Erleben am eigenen Leibe und das Singen und Dirigieren/ Klatschen in der
Gruppe führt auf anschauliche Weise zum Ton- und Hörbewusstsein
und zum Musikverständnis. Geatmete Phrasierung und Anschaulichkeit
wenden sich gegen eine pure ‘Mathematik‘ der Musik. Wie in der Rhythmik
ist auch hier der Rhythmus das Urelement. Man wird erahnen können,
wie die drei ‘Säulen‘ der Methode ineinandergreifen und eine im Rhythmikunterricht
ausgebildete Fertig- oder Fähigkeit im SoIfège- bzw. Klavierimprovisationsunterricht
angewendet werden kann.
Das Solfège-rythmique lässt sich auch auf andere Methoden,
wie Tonika-do oder KodáIy anwenden. Drei Aspekte bilden die Basis,
die zum Teil über übliche Übungskategorien anderer Methoden
hinausgehen:
1. METRIK UND RHYTHMUS
2. AUTOMATISIERUNG VON
TONFOLGEN IN VERBINDUNG MIT TONNAMEN, KLATSCH- UND GEHÜBUNGEN
3. VOKALIMPROVISATION
1. Im rhythmischen Bereich werden Fertigkeiten
wie Primavista, inneres Hören, schnell reagieren, Lesen von verschiedenen
Schlüsseln, trainiert.
2. Die Entlastung der Hirntätigkeit
wird durch die Automatisierung von Singbewegungen erreicht. Tonleiterausschnitte
automatisieren Tonfolgen und deren Tonnamen. Beim Kind wird so das absolute
Gehör erhalten, beim Erwachsenen gebildet. Der Vollständigkeit
halber sei erwähnt, dass ein großer Teil der Übungen auch
im Stufensingen besteht und so das abstrakte Denken und Hören fördert.
Intervalle und Akkorde leiten sich aus Tonleiterausschnitten unter
Weglassung der Zwischenstufen ab. Die Pause ist eine aktive Zeit des
Hörens und der inneren Tonvorstellung: Vorhören, Nachhören,
Mithören einer anderen oder einer vorgestellten Stimme.
3. Die Improvisation stellt wiederum
den Schlüssel dar zum Ansprechen des ganzen Menschen in seinem Eigensinn,
seiner Initiative, seinem Ausdruck und seiner Musikalität.
Im Gehörbildungsunterricht zu improvisieren, und zwar nach Vorgabe,
erschien den Studentinnen der Performing Arts Studios Vienna, der ersten
privaten Musicalausbildung in Österreich, an der ich seit September
96 unterrichte, zuerst nicht selbstverständlich. (Wie erwähnt
haben die RhythmikstudentInnen keinen Solfègeunterricht.) Wie in
der Rhythmik sind Musicalstudenten Allrounder. Sie werden in Tanz, Schauspiel
und Gesang ausgebildet, haben im musikalischen Bereich außer Solfège/
Musiktheorie Chor und einige Ensembles wie Jazzquartett. Der
Hauptunterschied
liegt meines Erachtens darin, dass die Studenten hier keinerlei pädagogische
Zielsetzung haben, da sie auf die Bühne wollen. Jedes Quartal macht
die Schule öffentliche Shows mit Arrangements ihres Leiters Michael
Schnack und Choreographien verschiedener Tanzlehrer. Die Hauptrnotivation
für das Solfège: Die StudentInnen wollen Vomblattlesen, rhythmisch
sicher werden, Musik verstehen lernen. Daneben braucht der Musicaldarsteller
die professionelle Flexibilität, sich auf jeden Dirigenten und Choreographen
einzustellen. Es sind ja die vier Hauptmerkmale des Musikers auszubilden
(fînesse d‘oreille, sensibilité, rythmique, extérioriser
sensations émotives). Ich hoffe, es gelingt, dass auch sie ”die
Musik von eine(r) bisher unbekannten Seite unter ganz neuen Gesichtspunkten
erfassen und begreifen” (s.O., E. Feudel) lernen.
Klavierimprovisation
Die Arbeit als Klavierimprovisationslehrer in Wien stellt methodisch-didaktisch
neue Anforderungen dar, denn die StudentInnen haben extrem verschiedene
Niveaus. Es kann vorkommen, dass eine Konzertpianistin in einer Kleingruppe
mit einer Anfängerin ist (z.B. 2 Jahre Klavierunterricht vor
Studienbeginn),
dass jemand, der nie in seinem Leben improvisiert hat, mit jemandem zusammen
ist, der kaum von Noten gespielt und eigentlich nur nach Gehör improvisiert
hat und schliesslich dass jemand hauptsächlich in der Art der Popularmusik
nach Harmonieschemata improvisiert hat. Ausdruckskraft, Ideenreichtum,
Vorstellungskraft und Aufnahmefähigkeit sind des weiteren oft unterschiedlich.
Der Ausgangspunkt vieler Themen muss so offen sein, dass sowohl verschiedene
Temperamente als auch verschiedene Niveaus etwas damit anfangen können.
Als hervorragendes Mittel hat sich die Arbeit mit musikalischen Parametern,
speziell die Arbeit am Rhythmus, wie z.B. Ostinati, herausgestellt. Der
andere wichtige Bereich sind freie Aufgaben: je offener die Aufgabe, desto
überraschender oft die Lösungen (hier ist der Aufforderungscharakter
im Sinne von eigener Lösung am größten). Das ist jedoch
nicht zu verwechseln mit unklaren Aufgabenstellungen, denn diese verhindern
die produktive Arbeit.
In der Arbeit zu vier Händen oder an zwei Klavieren werden Fähigkeiten
gebildet, sich selbst und den anderen zuzuhören und zu erspüren,
wohin der gemeinsame Weg führt.
Nicht etwa der Konzertpianist oder der Musiklehrer, nein, nur der
Rhythmiker hat während seines gesamten Studiums am Hauptinstrument
Improvisation neben Literaturspiel. (In Leipzig besteht seit 1992 ein
Studiengang für Improvisation.)
Die RhythmikerInnen könnten nicht nur selber als elementare
Instrumentalpädagoglnnen arbeiten, sondern ihr Können und Wissen
auch an andere Musiklehrer weitergeben.
Aussichten
Die Wurzeln für alle Bereiche der Rhythmik liegen heute in der
Improvisation mit Musik und Bewegung: in der Improvisation der Bewegung
zu einer improvisierten oder komponierten Musik, in der musikalischen
Improvisation zu einer improvisierten oder festgelegten Bewegungsfolge.
Im Rhythmikunterricht wird meistens improvisiert. Wir Rhythmiker haben
eine reichhaltige Palette an Improvisationsmodellen und an Methoden,
in unterschiedlichster Art zu improvisieren, ausgebildet Bei Vorführungen
kennen wir das regelmäßig Wiederkehrende ”Das habt ihr vorbereitet!”,
wenn wieder einmal vor Publikum improvisiert wurde.
Der ‘Baum Rhythmik‘ wächst weiter, einiges verliert sich, einiges
fällt ab, wächst neu, ist in Bewegung. Und ”es ist die Bewegung,
die das Bewusstsein bildet” (E. Jaques-Dalcroze, in: Die Rhythmische Gymnastik,
1906, Vorwort, S. XII).
Ulrich Mahlen schreibt in Üben & Musizieren: (2/95, S.2):
”Die Instrumentalpädagogik hätte in der Tat mancherlei
Gründe, bei der Rhythmik in die Schule zu gehen und die Vorzüge
der modernen Rhythmik in ihre Lehre zu integrieren, dazu gehören:
eine physiologische und anatomische Fundierung der Bewegungslehre; eine
weitgefächerte Praxis der Improvisation; eine Einbeziehung von Fragen
der Erwachsenen – wie der Vorschulpädagogik in die hauptfachspezifische
Lehre; eine selbstverständliche Aufgeschlossenheit für Neue
Musik, außereuropäische Musik, U-Musik-Bereiche, die in der
Instrumentalpädagogik meist zu kurz kommen; ein Arbeiten in Gruppen,
das vielfältige gruppendynamische Erfahrungen ermöglicht, ohne
die eine produktive Didaktik des Gruppenunterrichts schwerlich auskommt.”
Dieses betrifft sowohl die Genfer als auch die deutschsprachige Rhythmik.
Der Rhythmikunterricht hier wie dort ist eine mehrdimensionale Angelegenheit.
Die Rhythmiker können der Musikerziehung auf alle Fälle Impulse
geben (ebenso wie etwa die Kunstpädagogen, die sich schon lange vom
bloßen Reproduzieren verabschiedet haben).
Künstlerischer Unterricht, ob in den Bereichen Musik, Bewegung
oder Rhythmik, muss über das Erlernen und Vermitteln von Methoden
weit hinausgehen.
Um mit Nietzsche zu sprechen: ”Man muss noch viel Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können.” Um mit Dalcroze
zu sprechen, wird dieser ‘tanzende Stern‘ durch ”l‘émancipation
des essors spontanés et inconscients” (siehe Zitat auf erster Seite)
geboren. Danach werden sie von uns, den Rhythmiklehrerlnnen, geordnet.
Zusammenfassung
Die Rhythmik erscheint heute in so vielen Formen und es herrschen
so viele verschiedene Meinungen, dass die Verständigung untereinander
zur Aufgabe wird, auch angesichts der Konkurrenz von Spezialisten auf
Teilgebieten.
Emile Jaques-Dalcroze begeht den Weg der Erziehung durch die Musik
zur Musik. Die SchülerInnen von Feudel, Pfeffer, Scheiblauer u.a.
hatten keinen direkten Zugang mehr zu den Methoden und Ideen EJDs. Sie
entwickelten neue nützliche Methoden und Ansätze. Der Informationsfluss
zwischen dem deutsch- und französisch-sprachigen Raum könnte
besser sein. Die Gemeinsamkeiten aller Rhythmikerlnnen liegen im Bereich
der Improvisation. Hier können wichtige Impulse für andere Musik-
und Instrumentallehrer erfolgen.
Ausblick
Damit ein vertiefter Einblick in die Arbeit des Rhythmikers Jaques-Dalcroze
in anderen KuIturräumen und Grenzen möglich wird, möchte
ich abschliessend einige Überlegungen anstellen:
Aus historischer Sicht ist die Rolle Genfs als ”Hüterin” des Erbes
von Jaques-Dalcroze von grundlegender Bedeutung. Ebenso wichtig ist die
Rolle der Rhythmikerinnen und Rhythmiker Jaques-Dalcroze, die in anderen
soziokulturellen Umfeldern arbeiten und gezwungen sind, sich mit ihrer
beruflichen Identität auseinanderzusetzen. Diese Konfrontation führt
zu einer Infragestellung, zu einer Suche nach den Grundprinzipien, einer
Öffnung gegenüber anderen Welten und anderen beruflichen Realitäten,
zu einer Bereicherung und, wichtiger noch, schliesslich zu einem neuen
Bewusstsein der Werte Jaques-Dalcroze.
Es ist äusserst wichtig, dass die Methode Jaques-Dalcroze sich erneuern,
sich mit allen wissenschaftlichen, pädagogischen und künstlerischen
Entdeckungen, die im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht worden sind, bereichern
kann, um den Menschen des nächsten Jahrhunderts all das geben zu
können, was sie benötigen, um sich all ihrer Möglichkeiten
bewusst zu werden. Nur so kann das Ideal des Begründers lebendig
erhalten werden.
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